Kommentar: Zeitgewinn ohne Nutzen
■ Über den Kanzlerkandidaten der SPD entscheidet der 1. März
Auf ihrem letzten Parteitag im Dezember verlor die SPD kein Wort über ihren möglichen Kanzlerkandidaten. Auf dem kommenden Parteitag im April wird die derzeitige sozialdemokratische Gretchenfrage bereits beantwortet sein. So viel zum Thema innerparteiliche Demokratie.
Am 1. März werden die Niedersachsen ihren Landtag wählen. Erleidet die SPD mehr als zwei Prozent Verlust, erklärt Gerhard Schröder noch am Abend seinen Verzicht. Gewinnt sie, behält sie gar die alleinige Regentschaft, bedeutet dies den Aufbruch Schröders ins Kanzleramt. Die Niedersachsen, nicht die Sozialdemokraten sollen über seine Kandidatur entscheiden. So viel zu den kaum verhohlenen Wünschen des einen Kandidaten.
Der andere, Oskar Lafontaine, hat den ersten Zugriff auf die Kandidatur. Will er ihn jedoch wahrnehmen, muß er zunächst das Schrödersche Szenario zerstören. Denn angesichts eines für Schröder guten niedersächsischen Wahlergebnisses könnte er sich nicht selbst zum Kandidaten ausrufen lassen. Er wäre der Kandidat der Parteiführung, zweite Wahl. Von daher rührt das Interesse an einem Moratorium zwischen dem 1. März und der Kandidatennominierung. So viel zur wenig geheimen Taktik des anderen Kandidaten. Nun bringt dieser Zeitgewinn Lafontaine nichts, wenn er ihn nicht zur Eigenprofilierung zu nutzen weiß. Als Mann der Mitte wird er sich kaum mehr präsentieren können, diese Chance hat er bereits in den letzten Monaten vertan. Die Mitte ist es jedoch, so wird auch das Niedersachsen-Ergebnis gelesen werden, welche die SPD zum Erfolg führt.
Was Lafontaine auf den Kandidatenstuhl tragen kann, ist allein der Zuspruch seiner Partei. Für die SPD ist er die Nummer eins, so unumstritten, wie seit Willy Brandt keiner war. Doch gerade das Interesse der Partei sollte ihn von einer eigenen Kandidatur abhalten. Denn dieses gilt es nicht nur bei einem Gewinn der Wahl im September zu wahren, sondern – was weit schwieriger ist – bei einem Verlust. Verliert der Kandidat Schröder, so kann Lafontaine die SPD durch die dann folgenden existentiellen Auseinandersetzungen führen. Verliert jedoch ein Kandidat Lafontaine – wer steuert dann den Kurs der SPD und hält die Mannschaft zusammen? Lafontaine ist gefordert, die persönlichen den Interessen der Partei nachzuordnen. Und das kann er jederzeit – auch bereits am 1.März. Dieter Rulff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen