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Der Jetzt-erst-recht-Faktor

Einschüchterung, Spaltung, Ausforschung waren die Ziele der Polizeirazzien. Nur das Letzte haben sie erreicht

VON NIKOLAI FICHTNER, HEIKE HAARHOFF UND DANIEL SCHULZ

Gestern beim Frühstück wusste Christoph Kleine, dass er gewonnen hatte. Vor ihm eine Ausgabe seiner Lokalzeitung, der Lübecker Nachrichten. Über dem Kommentar auf Seite 2 die Überschrift: „Überzogen“. Später im Text ist die Rede von einer „sorgsam inszenierten Machtdemonstration“.

Kleine ist zufrieden: Selbst die Lokalpresse hinterfragt die Polizeirazzien. Und auch die Fernsehnachrichten und großen Tageszeitungen berichten überwiegend kritisch. „Was ich kommunizieren wollte, ist angekommen“, sagt Kleine, der zum engsten Organisatorenkreis der G-8-Proteste gehört. Seit der Nachricht von den Razzien bei den G-8-Gegnern hat er kommuniziert: erst die gemeinsame Linie mit den Partnern im Bündnis, dann die Statements für die Presse und die Solidemo in Hamburg.

„Wenn die Polizeiaktion drei Ziele hatte – nämlich Einschüchterung, Spaltung und Ausforschung –, dann haben zwei davon nicht geklappt“, sagt Frauke Banse von Block G 8, einem Netzwerk, das Straßenblockaden um Heiligendamm plant und nicht durchsucht wurde. Keine Einschüchterung, keine Spaltung. „Für die Bewegung hatte die Aktion eher positive Auswirkungen“, sagt Banse. Die meisten Aktivisten glauben an den Jetzt-erst-recht-Faktor, der einer bislang eher schleppenden Mobilisierung zum G-8-Gegengipfel neuen Schwung verleihen kann.

Am Mittwochabend finden in ganz Deutschland Solidaritätsdemonstrationen statt. Allein 3.000 Menschen ziehen durch Berlin-Kreuzberg, skandieren: „BKA, macht euch nichts vor, die Razzia war ein Eigentor.“ Ausschreitungen bleiben aus. Dass die Autonomen protestieren würden, war klar. Aber sie sind nicht die Einzigen. Eine 21-jährige Studentin sagt, sie habe sich spontan entschlossen zu demonstrieren. „Bisher war ich noch auf keiner G-8-Demonstration, aber als ich heute Nachmittag die Flyer an der Uni gesehen habe, war für mich klar, dass ich mitgehe.“ Um 23 Uhr löst sich der Zug friedlich auf.

Die Nacht nach der Demonstration war kurz. Entsprechend müde sehen die Menschen aus, die am Donnerstagmorgen im Künstlerhaus Bethanien in Berlin-Kreuzberg die Tür öffnen. Einen Tag zuvor war hier noch die Polizei zu Besuch. So langsam sackt die Erkenntnis, was die Razzia bewirkt hat. „Wir danken dem BKA für diesen Mobilisierungsschub“, sagt eine Aktivistin. Trotz der Müdigkeit wirkt sie gut gelaunt. Die Durchsuchung ihrer Büroräume im Bethanien sei zwar äußerst lästig gewesen, habe aber andererseits bewirkt, dass die Gegner des Gipfelprotests jetzt noch enger zusammenrücken. Die Demonstration von Mittwochabend bestärkt sie in ihrer Ansicht. Binnen weniger Stunden sei es gelungen, tausende Menschen auf die Straße zu holen. „Da waren auch viele Bürger dabei, die sonst vielleicht nicht direkt zur linken Szene gehören, aber die sich jetzt mit uns solidarisiert haben.“

Doch die Solidarisierung findet nicht nur auf der Straße statt. Während sich die Demonstranten in Kreuzberg versammeln, sitzen die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth und Sven Giegold von Attac auf einem Podium an der FU Berlin. Das Publikum ist studentisch und grün. „Da war niemand, der nicht verstanden hat, dass es da um einen Einschüchterungsversuch geht“, berichtet Giegold. Er glaubt, dass sich die G-8-Kritiker nicht abschrecken lassen vom Terrorverdacht. Auch Roth kritisiert die Polizeirazzien als „unverhältnismäßig“.

Inzwischen hat das Thema auch die Bundespolitik erreicht. Union und SPD verteidigen das Vorgehen der Behörden. „Ich kann keinen Grund zur Kritik an der Bundesanwaltschaft erkennen“, sagt der Innenexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz. „Das ist eine nüchterne Behörde, die nur ihren Job gemacht hat.“ Die G-8-Gegner hätten natürlich das Recht, friedlich zu protestieren und sollten nicht kriminalisiert werden. Die Linksparte fordert derweil ein parlamentarisches Nachspiel. „Wir werden dafür sorgen, dass die Durchsuchungen bei der nächsten Debatte im Bundestag behandelt werden“, sagte die Vizechefin der Linkspartei, Katja Kipping, der taz. Drei Dinge wolle man erfahren: „War dieser Großeinsatz verhältnismäßig? Was geschieht mit den Menschen, gegen die gar nichts vorlag und die dennoch geschädigt wurden? Und ist der Vorwurf des Terrorismus überhaupt gerechtfertigt?“

Von Attac über die Linkspartei bis zur katholischen Hilfsorganisation Pax Christi trudelten gestern Solidaritätserklärungen bei den Protestorganisatoren ein. Auch der Landestourismusverband Mecklenburg-Vorpommern meldete sich zu Wort. Es gebe noch zahlreiche freie Betten in den Jugendunterkünften der Ostreeregion.

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