: Hier bleibt keiner trocken
SCHIFFBRUCH Seit 149 Jahren gibt es die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). An der Ostsee bildet sie ihren Nachwuchs aus
■ DGzRS-Spendenkonto: Sparkasse Bremen (BLZ 290 501 01), Konto 107 2016, IBAN: DE 36 2905 0101 0001 0720 16, BIC: SBREDE22 www.seenotretter.de
VON ALEXANDER STEIN
In marineblauen Arbeitsanzügen klettern ein Dutzend Freiwillige in den stählernen Bootsrumpf. Vergitterte Deckenlampen werfen geizig Licht auf die grauen Spanten. Es ist schwül und stickig, Pumpengeräusche pulsieren im Raum. Wie in einem eben entleerten Aquarium. Plötzlich bricht Wasser durch einen Riss in der Schiffswand mit einem Druck, als pinkle ein Wal herein. Vom Schwall getroffen springt eine Frau zur Seite, auch die Männer weichen zurück. Vergebens. Hier bleibt keiner trocken.
„Im Leckabwehr-Torso kann man spielen bis zum simulierten Untergang“, lacht Horst Kagel, Vormann der DGzRS-Ausbildungsstation in Neustadt bei Lübeck. Seit rund 20 Jahren bereitet der 72-Jährige freiwillige und fest angestellte Seenotretter auf ihre Einsätze in Nord- und Ostsee vor.
Die Freiwilligen des einwöchigen Lehrgangs „Sicherheit“ üben das Schleppen manövrierunfähiger Boote, die Evakuierung Verletzter sowie „persönliche Überlebenstechniken“, im Hörsaal des Schulungszentrums erfahren sie die entsprechende Theorie.
Lecks sollen die Schüler mithilfe bordüblicher Gegenstände wie Holzkeile und Textilien verschließen oder wenigstens verkleinern. Im Notfall könnten sie auf einer leckgeschlagenen Yacht zwecks Holzgewinnung deren Einbauschränke zertrümmern – allerdings nur nach Rücksprache mit dem Eigner.
Im Torso liegen fertige Keile bereit, noch aber schießt das Wasser ungebrochen herein. Regina Heinritz, eine von drei Frauen, versucht mit Kollegen, eine Schaumstoffmatratze vor dem Riss zu fixieren.
Vollgesogen zieht diese jedoch in Richtung Schiffsboden, wo hinter ihnen ein weiteres Leck sprudelt wie ein Springbrunnen. Im hinteren Teil des Schiffsraums dringt es ebenfalls literweise durch die Wand.
„Hier ist eine Pumpe, die sie nutzen können“, raunt Ausbilder Dieter Conradi, während er von einer Plattform die triefenden Schüler beobachtet. „Die Frage ist: Kommen sie darauf?“
„Wir geben auf!“, ruft Regina halb ironisch zu den Ausbildern. „Hier gibt keiner auf!“, schallt es zurück. Der Übungscharakter tritt in den Hintergrund, und körperliche Anstrengung steht jetzt in den Gesichtern. Zwar hülfe bei einem Leck, die Quelle zu beseitigen – zu leicht wollen es ihnen die alten Hasen aber nicht machen. „Wenn sie hingehen, um das Ventil zu schließen, reißen wir die beiden Einschusslöcher auf“, sagt Ausbilder Conradi und zeigt auf zwei Torpedotreffer in Knöchelhöhe. „Ein bisschen Spaß wollen wir ja auch haben.“
Die Kriegswaffenschäden weisen darauf hin: Der „Torso“ ist kein ziviles Modell. Er ist Teil des benachbarten Marinestützpunktes, den „die Gesellschaft“ für ihre praktische Ausbildung nutzen darf.
Wie die meisten seiner Kollegen war auch Horst Kagel bei der Marine, bevor er zu den Seenotrettern stieß, dort bildete er Taucher aus. Kagel ist ein einnehmender Mann, ein jung gebliebener Geschichtenerzähler mit einem marinen Erfahrungsschatz, den er teilen will. Die ältesten Lehrgangsteilnehmer haben etwa sein Alter und sind teils „zur Auffrischung“ hier, der jüngste, Fiete Eckert, ist 18 Jahre alt. Für den hochgewachsenen jungen Mann der „Station Schilksee“ ist es der zweite Lehrgang in Neustadt, zwei Wochen zuvor absolvierte er „Seemannschaft und Manöver“.
Der Hobbysegler will bei der Gesellschaft Erfahrungen sammeln für seinen angestrebten Beruf: „Schiffsmechaniker in der Handelsschifffahrt“. Später kehre er vielleicht zurück zu den Rettern. „Nicht jede Organisation kümmert sich so gut um die Freiwilligen wie die DGzRS“, lobt er. Neben 180 Festangestellten sind es rund 800 Freiwillige, die auf 54 Stationen den deutschen Seenotrettungsdienst bilden. Ohne sie wäre er nicht finanzierbar. Denn lediglich „bei technischer Hilfe“ müsse ein Einsatz bezahlt werden, erklärt Kagel, „Lebensrettung ist kostenfrei.“ Dass sie oft mit „Freizeitschiffern“ zu tun hätten, liege aber – anders als oft behauptet – selten an deren Unvermögen. „Yachtis sind keine schlechten Seefahrer“, stellt der Vormann klar, „wir haben mit denen viel zu tun, weil es viele gibt.“
Und Notfälle gebe es jederzeit, „auch bei spiegelglatter See“, sagt er, „einer hat einen Herzinfarkt da draußen, Boote fahren zusammen oder jemand geht über Bord.“ Nach einiger Zeit, abhängig von Kleidung, Temperatur und körperlicher Verfassung, sei ein Mensch im Wasser durch „Unterkühlung“ gefährdet. „Wenn wir Unterkühlte finden und sie zeigen keine Lebenszeichen, müssen wir trotzdem davon ausgehen, dass sie noch leben!“, mahnt Kagel.
Bei 35 Grad Körpertemperatur wandele sich das „Erregungsstadium in ein Lähmungsstadium“. Die Herzfrequenz sinkt, Müdigkeit stellt sich ein, danach Bewusstlosigkeit. Durch „falsche Erste Hilfe“ wie zu schneller Erwärmung oder Veränderung der Körperhaltung drohe einem Patienten der „Bergungstod“, erklärt Kagel. Regina ist angespannt. Die Verantwortung, die sie als Retter tragen, ist groß. Die 48-Jährige mit den kurzen blonden Haaren aber hat sich bereits am Vortag bewiesen – beim „Heli-Winchverfahren“.
Ein „Seaking“-Hubschrauber der Marine, der die DGzRS bei ihrer hoheitlichen Aufgabe des SAR (Search and Rescue) aus der Luft unterstützt, hatte sie wie auch die anderen per Rettungskorb aus einem in der Ostsee treibenden Rettungsfloß gezogen. Da saß sie nun, an der offenen „Seaking“-Schiebetür auf der Kante zum Abgrund, und wartete, am Drahtseil auf eines der unter ihr kreuzenden Seenotrettungsboote „abgewincht“ zu werden.
Reginas Nerven werden bei der Brandbekämpfung erneut auf die Probe gestellt. „Feuer ist immer gefährlich!“, warnt Ausbilder Conradi. „Wenn ihr zu nahe herankommt, werdet ihr sehen, wie der rote Friseur zuschlägt.“
Im Gegensatz zur Leckabwehr könne man „bei Feuer nicht einfach die Schotten dichtmachen“ und den Raum aufgeben, erklärt er, es fresse sich durch Kabelbahnen und Lüftungsschächte. Mit CO2 und Schaum ersticken die Schüler, was Brandschutzsoldaten der Marine für sie entzünden: eine Helikopterkabine, einen Schiffsraum und einen Motorblock mit gekreuzten Wasserstrahlen im Zangenangriff.
Später auf See dürfen die Lehrgangsteilnehmer selbst feuern, wenn auch flammenlos. Mit gespreizten Beinen steht Fiete am Bug des Rettungsbootes „Siegfried Boysen“, streckt die Arme nach oben und drückt ab. Aus der großkalibrigen Signalpistole steigt eine weiße Leuchtkugel in den blauen Ostseehimmel – im Ernstfall das Zeichen: „Wir, die Seenotretter, kommen!“
Zur Übung „persönlicher Überlebenstechniken“ präsentiert sich den Schülern im Hallenbad eine Art Weihnachtsmann in Badeshorts. DGzRS-Ausbilder Fridolin Büttner hat sich die Henkel einer kleinen Plastiktüte um die Ohren gehängt und grinst breit durch seinen weißen Folienbart: So hätten sie beim Erbrechen die Hände frei, erklärt er dann.
Im Wellenbecken hinter ihm schaukelt eine Rettungsinsel, deren Klima aus Gummigeruch, Sauerstoffarmut und Wärme schon gestandene Seemänner niedergestreckt hat. Im Ernstfall verändere sich darin manch Charakter. Seekranke würden mitunter aggressiv und wollten „die Insel verlassen“, berichtet Kagel, deshalb gehöre zur Standardausrüstung neben Schmerz- und Signalmitteln auch 50 Meter Perlonleine, die man zum Fesseln benutzen könne.
„Früher war auch mal ein Skatspiel drin“, erinnert er sich, heute sei es das Neue Testament. „Da kann man drüber lachen, aber wir kennen die Situation nicht, wenn das Leben dem Ende zugeht.“
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