: Die Kurven von Rio
BAUKUNST Der Architekt Oscar Niemeyer gilt als Wegbereiter der klassischen Moderne. Wie dieser Weg verlief, zeigt sich in seiner Heimatstadt
■ Das Museu de Arte Contemporânea, Mirante da Boa Viagem, Niterói, www.macniteroi.com.br, ist von Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr geöffnet.
■ Die Casa da Canoa, Estrada das Canoas 2310, Stadtteil São Conrado, ist Dienstag bis Freitag von 13 bis 17 Uhr geöffnet .
■ Das Edifício Capanema liegt in der Rua da Impresa 16 im Stadtteil Centro, die Banco Boavista in der Avenida Rio Branco 114, das Sambódromo in der Pasarela Professor Darcy Ribeiro, beides ebenfalls im Centro.
■ Weitere Informationen beim Rio Convention & Visitors Bureau in Mainz, Tel. (0 61 31) 6 00 70 75, www.rcvb.com.br oder beim Brasilianischen Fremdenverkehrsamt in Frankfurt, Tel. (0 69) 96 23 87 33, www.braziltour.com
VON ULRIKE WIEBRECHT
Ist es ein Kreisel? Ein Ufo? Oder ein Opferkelch, der sich zum Himmel öffnet? Es lässt sich vieles in das futuristische Museum für zeitgenössische Kunst von Rio de Janeiro hineindeuten, das Oscar Niemeyer 1996 im Alter von 89 Jahren gebaut hat. Sein Schöpfer vergleicht es mit einem weißen Vogel. Flügel hat er keine. Aber er schwebt: Mit ungeheurer Leichtigkeit erhebt sich die Betonschale über Felsen und Wasser und strahlt mit ihrer weißen Hülle im azurblauen Äther. Das Innere überrascht mit runden Räumen, geschwungenen Wänden und Panoramafenstern, die nicht nur jede Menge Licht hereinholen, sondern auch einen atemraubenden Blick auf die Millionenmetropole an der Guanabara-Bucht bieten.
Neben Zuckerhut, Copacabana und Corcovado sollte das Museum auf dem Programm jedes Rio-Besuchs stehen. Auch wenn es eigentlich in der Nachbarstadt Niterói steht und man dazu die Fahrt auf einer dreizehn Kilometer langen Brücke über die Guanabara-Bucht auf sich nehmen muss. Noch besser, man überquert das Wasser mit dem Katamaran. Dann kommt man direkt an der kreisrunden, weißen Schiffsstation Charitas an, die ebenfalls von Oscar Niemeyers entworfen wurde und mit dem Aussichtsrestaurant Olimpo ein wunderbarer Ort ist, um den Sonnenuntergang über dem Wasser zu erleben.
Vorher bietet sich ein Spaziergang über den Caminho Niemeyer, den sogenannten Niemeyerweg an, der ein Stückchen weiter das Ufer säumt. Auf einer ehemaligen Brache vereint er gleich mehrere Kulturbauten aus der Hand des Architekten: ein Volkstheater, die Gedenkstätte Roberto Silveira, eine Kirche und die Fundação Niemeyer.
Die Anlage ist eines der jüngsten Werke des Baumeisters – und nicht unbedingt sein gelungenstes. Wenn die Sonne ungehindert auf den Caminho niederknallt, macht er einen unwirtlichen Eindruck. Immerhin wird sich bald ein weiteres spektakuläres Gebäude dazugesellen: Bis Ende dieses Jahres entsteht der sechzig Meter hohe Torre Niemeyer, mit Touristeninformation und Panorama-Restaurant. Auch er wird unverkennbar die Handschrift des Pritzker-Preisträgers tragen. Markenzeichen sind der Stahlbeton und das fast aseptische Weiß der Fassaden. Und vor allem die runden Formen.
„Was mich anzieht, sind die freien, sinnlichen Kurven“, wird er nicht müde zu beteuern. „Die finde ich in den Bergen meines Landes, im verschlungenen Verlauf seiner Flüsse, in den Wellen des Meeres, bei den Wolken im Himmel und am Körper der geliebten Frau.“
Die Kurven sind Niemeyers Beitrag zur eher rationalistisch geprägten Avantgardearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts, weshalb er als Wegbereiter der Moderne gilt. Wie sein eigener Weg verlief, kann man am besten in Rio de Janeiro verfolgen. Wenn die meisten Niemeyer mit der Hauptstadt Brasilia in Verbindung bringen, die er unter dem Stadtplaner Lúcio Costa mit gestaltete, dann reicht dies nicht aus, um ihn zu beurteilen. In Rio dagegen, wo er 1907 als Sohn deutschstämmiger Einwanderer geboren wurde, wo er an der Escola de Belas Artes studierte und auch heute, nachdem er mit 99 Jahren seine Sekretärin Vera Lucia heiratete, lebt, zeigt sich die Vielfalt seiner Baukunst in den unterschiedlichsten Werken.
Da ist zum Beispiel das Edifício Capanema im quirligen Centro, benannt nach dem früheren Erziehungsminister Gustavo Capanema, der das Hochhaus zwischen 1937 und 1945 errichten ließ. Auch wenn hier ein ganzes Team von Architekten unter der Regie von Lúcio Costa und Le Corbusier am Werk war und Oscar Niemeyer eher die Rolle des Praktikanten zufiel, lassen sich viele Elemente ausmachen, die bei seinen späteren Gebäuden wieder auftauchen.
„Charakteristisch ist vor allem die Brise-Soleil-Technik der Fassade“, erklärt Gionia Belmonte, die als Fremdenführerin in Rio de Janeiro arbeitet und sich auch mit Niemeyer auskennt. „Sie sieht aus wie eine Jalousie und lässt das Tageslicht herein, ohne dabei zu blenden.“ Doch nicht nur deshalb wurde das Gebäude zu einer Ikone der brasilianischen Moderne. Mit seinen vierzehn Stockwerken ruht es auf relativ schlanken Säulen und zeichnet sich trotz seiner Monumentalität durch Leichtigkeit und Eleganz aus. Zudem versprühen blau-weiße Kachelmosaiken von Candido Portinari im offenen Eingangsbereich und der von Burle Marx begrünte Dachgarten mediterrane Heiterkeit.
Ganz unauffällig wirkt dagegen die Obra do Berço, eine Kinderkrippe im Lagoa-Viertel, die Niemeyers erstes eigenständiges Werk war. Erst bei näherem Hinsehen zeigt sich die Originalität des Entwurfs. „Hier hat er die Brise-Soleil-Technik wieder aufgegriffen“, meint Gionia, „aber statt in horizontaler dieses Mal in vertikaler Form.“ Sie erzählt, dass die Arbeiter den Auftrag während Niemeyers Abwesenheit zunächst falsch ausgeführt hätten. Als der Architekt zurückkam, bezahlte er die baulichen Veränderungen aus der eigenen Tasche, obwohl er für seine Pläne gar kein Honorar in Rechnung gestellt hatte.
Anders dürfte es sich beim Firmensitz des Banco Boavista im Stadtzentrum verhalten haben. Zwischen 1946 und 1948 entstanden, weist es wieder die jalousieartigen Glasfassaden und schlanken Säulen auf, dazu gewellte, kurvige Wände. Es hat so gar nichts gemein mit dem 1984 fertiggestellten Monumentalgebäude, das Jahr für Jahr Zigtausende Menschen durchlaufen, ja sogar besitzen – ohne wahrscheinlich zu ahnen, dass es sich um eine Schöpfung Niemeyers handelt: das Sambódromo, das Schauplatz der Karnevalsparaden ist. Bei seinen Dimensionen von fast einem Kilometer Länge – so lang sind die Umzüge – ist es schwierig, elegant zu sein. So empfängt den Besucher eine geballte Ladung Beton, die man höchstens als funktional bezeichnen kann. Wobei gerade dies von Kritikern in Abrede gestellt wird, die die Qualität der Bauausführung bemängeln. Wie auch immer, lange möchte man hier nicht verweilen.
DER DICHTER FERREIRA GULLAR
Stattdessen empfiehlt sich unbedingt ein Abstecher in den Stadtteil São Conrado, wo ein wahres Kleinod auf Besucher wartet: die Casa das Canoas, Niemeyers zwischen 1951 und 1953 entstandenes Privathaus, in dem er etwa zehn Jahre mit seiner Familie wohnte und das heute öffentlich zugänglich ist. Es ist eins seiner persönlichsten Werke. „Mir ging es darum, dieses Wohnhaus mit völliger Freiheit zu bauen und dabei an das Gelände anzupassen“, erinnerte sich Niemeyer später.
Mitten im tropischen, gebirgigen Wald empfängt einen zunächst lebhaftes Vogelgezwitscher. Dann hebt sich vom dichten Grün ein weißes, nierentischförmiges Flachdach ab, das über einer gläsernen, kurvigen Fassade schwebt. Behutsam schmiegt sich das Haus mit dem asymmetrischen Pool und allerlei Skulpturen in die Landschaft. Auch in den Innenräumen ist die Natur in Form eines Felsens präsent, daneben stehen hier selbstentworfene Möbel des Architekten. Die Casa de Canoas ist eine friedliche Oase in der lärmigen Metropole. Ein idealer Ort, um zu verweilen und sich vielleicht auch über den Architekten Gedanken zu machen, dessen Geburtstag sich am 15. Dezember zum 103. Mal jährte.
Vieles lässt sich kritisieren. Dass seine Gebäude oftmals selbstverliebten Skulpturen gleichen, die wenig funktional sind. Dass Niemeyer es als Ästhet nicht versteht, ökologisch und nachhaltig zu bauen. Dass der Kommunist fern der Realität mit überkommenen Ideen kokettiert, die er gar nicht umzusetzen versteht. Aber wie sagte der Dichter Ferreira Gullar über ihn: „Es reicht nicht, die sozialen Probleme der Menschen zu lösen, sie brauchen Schönheit. Oscar macht das Leben schöner.“
Mag sein, dass sich auch das Pathos seiner großen architektonischen Gesten überlebt hat. Doch nichts scheint sich besser als Symbol für die Aufbruchstimmung des jungen lateinamerikanischen Landes zu eignen, das optimistischer als alle seine Nachbarstaaten in die Zukunft blickt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen