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So viel wiegt ein Blatt Papier

MIGRATION Mit dem „Einigungspapier Oranienplatz“ hat der Senat das Protestcamp beendet und den Flüchtlingen Versprechungen gemacht. Aber werden die auch eingehalten? Eine Analyse

VON SUSANNE MEMARNIA

Die Meldungen häufen sich: Woche für Woche müssen mehr Oranienplatz-Flüchtlinge ihre Unterkünfte räumen. Ihre Verfahren sind abgeschlossen, ihre Anträge abgelehnt, sie sollen Berlin verlassen. Viele verschwinden still, in der Obdachlosigkeit, bei Bekannten oder sonst wo. Andere besetzen Dächer oder Kirchen und protestieren: Der Senat halte sich nicht an seine Versprechen, sagen sie. Ist da was dran? Was genau steht in dem Papier, das am 18. März von Senatorin Dilek Kolat (SPD) und sieben Vertretern der Flüchtlinge unterschrieben wurde? Und was ist aus den Vereinbarungen geworden?

„Bedingungen für Flüchtlinge verbessern“

In dieser Allgemeinheit können das auch flüchtlingspolitische Hardliner wie CDU-Innensenator Frank Henkel unterschreiben, die prinzipiell lieber nichts verbessern möchten – um keine „Fluchtanreize“ zu schaffen. Das Problem liegt im Detail, wie die Neuregelungen des Asylrechts zeigen, die gerade vom Bundesrat abgesegnet wurden. Damit wurden einerseits zentrale Forderungen der Flüchtlinge erfüllt wie die Fastabschaffung der Residenzpflicht – an der Henkel gern festgehalten hätte. Andererseits dürfen Flüchtlinge weiterhin ihren Wohnort nicht frei wählen. Ob das neue Gesetz die Bedingungen für sie verbessert, wird sich also erst zeigen müssen.

„Abbau aller Zelte“

Die Flüchtlinge haben dies am 8. April erledigt – wenn auch nicht alle freiwillig. Seitdem wohnt niemand mehr auf dem Platz, die Polizei wacht darüber.

„Info-Zelt“

Die Wortwahl ist unklar, denn in der Folge ging es immer um zweierlei: ein Info-Zelt und ein Versammlungszelt. Seit der Räumung ersetzt ein kleiner Container das Infozelt. Dahinter gab es eine Jurte als Versammlungszelt, die bei der Räumung zunächst mit abgebaut und nach einigen Tagen wiederaufgebaut wurde – wegen der Proteste einer Geflüchteten, die tagelang auf einem Baum hockte. Im Juni wurde die Jurte von Unbekannten abgebrannt. Seit Mitte August steht nun hinter dem Info-Container das „Haus der 28 Türen“ – ursprünglich ein Kunstprojekt und Mahnmal für alle Flüchtlinge, die an den EU-Außengrenzen den Tod finden.

„Senatorin unterstützt Kernanliegen der Flüchtlinge“

Eigentlich ist Kolat für die wichtigsten politischen Anliegen der Flüchtlinge nicht zuständig, die fraglichen Gesetze sind Bundes- und EU-Sache. Kolat hat aber laut ihrem Sprecher wichtige Punkte wie die Abschaffung der Residenzpflicht und die Lockerung des Arbeitsverbots im Herbst 2013 bei den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene eingebracht. Zudem habe sie die Frage des Zugangs zu Sprachkursen und Arbeitsmarkt in die Konferenz der Integrationsminister thematisiert.

Das klingt gut, heißt aber wenig: Die Integrationsminister „begrüßten“ im März lediglich auf Antrag Berlins die Absicht der Bundesregierung, allen Flüchtlingen nach drei Monaten Aufenthalt das Arbeiten zu erlauben – wenn sich für den jeweiligen Job kein Deutscher oder EU-Ausländer findet. Diese Neuregelung wurde am Freitag im Bundesrat mit der Stimme Berlins beschlossen, zusammen mit der umstrittenen Erweiterung der Liste der „sicheren Herkunftsländer“ um Bosnien, Serbien und Mazedonien.

„Liste“

467 Flüchtlinge von Oranienplatz und besetzter Schule hatten sich im Frühjahr auf einer Liste registrieren lassen. Letztlich haben nur 265 Flüchtlinge eine „Oranienplatzkarte“ erhalten, sagt die Senatsinnenverwaltung. Wo die anderen geblieben sind, weiß niemand – bis auf die 45, die weiter in der besetzten Kreuzberger Schule leben.

Die Oranienplatzkarte bekam, wer auf der Liste stand und nach der Platzräumung in einem Wohnheim vorsprach. Mit ihr bekommen die Flüchtlinge für die Dauer der Einzelfallprüfung Unterkunft und etwas Geld (darüber steht nichts im Einigungspapier). Bis heute mussten laut Lageso knapp 200 ihre Unterkünfte räumen; davon seien „etliche“ schon vor dem Ende des Verfahrens ausgezogen.

„Umfassende Prüfung“

Das ist der Hauptstreitpunkt. Die meisten Oranienplatz-Leute haben entweder italienische Aufenthaltspapiere und/oder ein laufendes Asylverfahren in einem anderen Bundesland. Je nach Fall beantragen sie daher eine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin oder eine Umverteilung ihres „Falls“ nach Berlin. Bislang hat die Ausländerbehörde mehr als 170 Anträge entschieden, fast alle wurden abgelehnt.

Nicht nur die Flüchtlinge bezweifeln daher, dass die Behörde jeden Einzelfall auf seine „rechtlichen Möglichkeiten“ hin prüft. Auch Senatorin Kolat hat den Eindruck, „dass ein zentrales Element der Vereinbarung, die umfassende aufenthaltsrechtliche Prüfung, in unbefriedigender Weise umgesetzt wird“, sagt ihr Sprecher.

Rechtsanwältin Berenice Böhlo, die einige Oranienplatz-Leute vertritt, ist sich sogar sicher, dass keine umfassende Prüfung stattfindet – weil alle Betroffenen die gleiche „Textbaustein-Ablehnung bekommen und die Sondersituationen keinerlei Berücksichtigung finden“. So sei es etwa laut Gesetz möglich, eine Duldung aus humanitären Gründen zu geben, wenn „dringende humanitäre oder persönliche Gründe“ vorliegen. Aber sogar Flüchtlinge, die psychologische Gutachten über Traumatisierungen vorlegen würden und hier einen Therapieplatz hätten, würden abgelehnt, so Böhlo. Auch Verlobung, Praktikumsplatz oder ein nur in Berlin vorhandenes soziales Umfeld würden nicht als Gründe anerkannt.

Innensenator Henkel betont immer wieder, man halte sich an die aufenthalts- und asylrechtlichen Vorschriften – es gelten dieselben Gesetze wie bei allen Flüchtlingen.

Dagegen argumentieren Henkels Kritiker: Wenn es nur um eine ganz normale Prüfung ginge, hätte man diesen Passus gar nicht in das Abkommen aufnehmen müssen – eine solche Prüfung stehe gesetzlich ohnehin jedem Flüchtling zu.

So sieht es etwa Andreas Fischer-Lescano, der Bremer Jura-Professor, der für Dilek Kolat ein Rechtsgutachten zur Zuständigkeit Berlins für die Oranienplatz-Leute erstellt hat. „Natürlich war damit vor dem Hintergrund der Verhandlungen die Zusicherung gemeint, dass Berlin alle möglichen Ermessensspielräume und rechtlichen Möglichkeiten ausschöpft, um die Personen in sichere Aufenthaltslagen zu überführen“, sagt er.

„Unterstützungspool“

Dieser nahm am 8. April, dem Tag der Räumung des Oranienplatzes, seine Arbeit auf. 15 Beraterinnen von Caritas und Diakonie besuchen seitdem die Flüchtlinge in den Heimen. Eine von ihnen ist Katharina Müller von der Diakonie. Anfangs hätten die Beraterinnen vieles erledigen müssen, was eigentlich nicht ihre Aufgabe sei, erzählt sie: Sprachkurse organisieren (weil die vom Senat versprochenen erst im Juli anfingen, siehe „Liste“), die Auszahlung des Geldes für die Flüchtlinge organisieren, Ärzte finden, die kostenlos behandeln.

So hätten sie viele ihrer Fälle – seit April kamen auf 7,5 Diakonie-Vollzeitstellen über 180 Flüchtlinge – nicht ausreichend für die Anhörung bei der Ausländerbehörde vorbereiten können. „Als es Mitte Juni mit den Anhörungen losging, gab es in den meisten Fällen nur ganz kurze Einladungsfristen. Und wenn wir um Terminverschiebung für einen Fall gebeten haben, weil wir noch nicht so weit waren, wurde das ignoriert“, erzählt sie.

Tatsächlich wurde in Dutzenden Fällen die aufenthaltsrechtliche Prüfung für beendet erklärt, weil die Betreffenden zweimal nicht zum Termin bei der Ausländerbehörde erschienen sind.

Wer aber zur Anhörung gehe, sagt Müller, bekomme beim ersten Gespräch zu hören, dass der Antrag voraussichtlich abgelehnt wird. Dann müsse der Flüchtling binnen einer Woche eine ausführliche Begründung liefern. „Üblich ist sonst eine Frist von vier Wochen für solche Stellungnahmen“, so Müller.

„Abschiebung ausgesetzt“

Bekannt sind die Fälle von zwei Männern, die im Verlauf des Sommers in Abschiebehaft kamen, obwohl sie dem Abkommen beigetreten waren. In beiden Fällen war die zuständige Asylbehörde in Sachsen-Anhalt offenbar nicht von Berlin über das anstehende Verfahren informiert worden. Die Männer kamen nach einem Gerichtsbeschluss frei.

Vorigen Mittwoch wurde ein Mann verhaftet, als er einen Freund zum Flughafen Schönefeld brachte. Er sitzt seitdem im Abschiebegefängnis von Eisenhüttenstadt und soll nach Italien abgeschoben werden, obwohl er am 10. Oktober seinen Termin bei der Ausländerbehörde hat. Die Senat-Innenverwaltung sagte der taz, sie werde in dem Fall nicht aktiv werden. Grund: „Es gilt der Grundsatz, dass zwar die Berliner Behörden, nicht aber die Behörden anderer Länder in ihrem Verwaltungshandeln das Einigungspapier umsetzen.“

„Deutschkurse“

Seit Juli gibt es Kurse an zehn Volkshochschulen in zehn Bezirken, sagt Kolats Sprecher. Aktuell fänden 32 Kurse statt mit bis zu 20 Personen. Ein Kursmodul dauere 100 „Unterrichtseinheiten“, jeder könne bis zu vier Module besuchen.

„Zugang zum Arbeitsmarkt“

Laut Kolat-Sprecher Gille haben die Flüchtlinge Unterstützung durch das Berliner Netzwerk für Bleiberecht „bridge“ und das LernNetz Berlin-Brandenburg erhalten. Beide seien aktiv auf die Flüchtlinge in den Unterkünften zugegangen. Seitens der Flüchtlinge sei aber wegen ihrer unsicheren Lage „das Interesse an einer langfristigen Berufswegeplanung trotz des vorhandenen Willens, den Lebensunterhalt selbstständig bestreiten zu können, bislang nicht ausgeprägt“.

Das mag teilweise so sein. Tatsache ist aber auch, dass die Beraterinnen des Unterstützerpools einigen Flüchtlingen Praktikums- und Bundesfreiwilligenplätze besorgt haben – und die Ausländerbehörde trotzdem eine Aufenthaltsgenehmigung verweigert. Dies bedauere auch Kolat, sagt ihr Sprecher.

Ein winziger Lichtblick bleibt: Zwei Flüchtlinge haben bislang eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, weil sie in Berlin Arbeit haben und ihren Lebensunterhalt sicherstellen können.

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