: Was vom Himmel blieb
Vor 20 Jahren setzte Wim Wenders mit dem „Himmel über Berlin“ der Mauerstadt ein filmisches Denkmal. Die schwebenden Bilder berühren noch heute. Eine Spurensuche zur Wiederaufführung
Vor 20 Jahren schickte Wim Wenders die Schauspieler Bruno Ganz und Otto Sander als Engel in den „Himmel über Berlin“. Am Drehbuch hatte der Lyriker Peter Handke mitgeschrieben. In Cannes wurde Wenders für die beste Regie prämiert, der Film zählt zum Kanon deutscher Kinogeschichte. Ab heute ist der „Himmel“ wieder bundesweit auf der großen Leinwand zu sehen – in frischen, teils digitalen Kopien. In Berlin läuft er in der Kulturbrauerei und den Hackeschen Höfen, in den Neuen Kant Kinos und im Moviemento. TAZ
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Über die Langenscheidtbrücke in Schöneberg kann ich bis heute nicht fahren, ohne sofort dieses Bild vor Augen zu haben: Der Mann in der Lederjacke, dem Blut aus den Ohren läuft, der neben einem demolierten Motorrad an der Bordsteinkante sitzt und stirbt. Dass er stirbt, sieht man eigentlich nicht. Aber man ahnt es, weil Bruno Ganz auftaucht – als Engel im dunklen Trenchcoat –, sich hinter ihn kniet, ihm sacht den Kopf hält und eine Art Litanei spricht, in die der Sterbende schließlich einstimmt: „Der Ferne Osten / Der Hohe Norden / Der Wilde Westen / Der Große Bärensee …“ Die Sequenz aus Wim Wenders’ „Himmel über Berlin“ ist für mich eng mit der Topografie der Stadt verwoben, wie viele andere Szenen dieses Films, den ich vor 20 Jahren zum ersten Mal gesehen habe.
Ort meiner Begegnung mit Wenders’ melancholischen Engeln war ein Programmkino in einer kleinen westdeutschen Großstadt. Ich war 17 und verstand herzlich wenig von Filmen. Ich kannte weder Bruno Ganz noch Otto Sander, eigentlich noch nicht einmal Wim Wenders. Westberlin? Ein gemütlich eingemauertes Kuriosum. Den Sound der Revolte hatte ich nicht vernommen, vielleicht hatte ich auch nicht so genau hingehört. Was mich dagegen fesselte, waren diese schwebenden Bilder in Schwarzweiß, Bilder einer verletzten Stadt mit Brachen und Nischen, voller einsamer Menschen und – so Wenders filmische Fantasie – erfüllt vom Murmeln innerer Stimmen. Zu behaupten, dieser Film sei ausschlaggebend gewesen für meine spätere Entscheidung, in Berlin zu leben, wäre übertrieben. Gelogen wäre es aber auch nicht.
Ich habe den „Himmel über Berlin“ seitdem ein halbes Dutzend Mal gesehen. Dabei halte ich ihn nicht einmal für besonders gelungen. Der eigentliche Plot, die Geschichte vom Engel, der sich in eine Trapezartistin verliebt und sein geistiges gegen ein sinnliches Dasein eintauscht, ist halb sentimental, halb verschroben und ausgesprochen zähflüssig inszeniert. Die endlose Schlusssequenz, bei der Bruno Ganz und seine Filmpartnerin Solveig Dommartin im Kaisersaal des Esplanade sitzen und sie ihm ihr Innerstes offenbart, fand ich beim ersten Mal unerträglich – und so ist es immer noch. Was bleibt und Gültigkeit behält, sind die Schilderung der Stadt als Psychogramm ihrer Bewohner und diese traurig umherstreifenden, gottlosen Engel, die in die Köpfe der Menschen hineinhören und in Notizbüchern die winzigen alltäglichen Momente der Menschwerdung protokollieren.
Ich kenne auch keinen anderen Film, der eine Stadt so intensiv in Szene setzt, ohne jemals ins Postkartenhafte zu verfallen. Aber das Westberlin der 80er bot dafür auch denkbar schlechte Voraussetzungen. Das Kaputte, das Provisorische und das erratisch Moderne – wie der gewaltige Raum von Scharouns Staatsbibliothek – eignen sich nicht zur Verkitschung.
Dieses Berlin gibt es so nicht mehr. Es ist von der Geschichte überschrieben worden, der Fokus hat sich verlagert, Klang und Teint der Stadt sind neu. Dabei haben sich viele von Wenders’ Drehorten in zwei Jahrzehnten kaum verändert: die rostigen Yorckbrücken, der Bunker unterm Sozialpalast und der am Anhalter Bahnhof („Wer Bunker baut, wirft Bomben“ steht noch an der Wand), die Imbissbude Glogauer Ecke Reichenberger oder die am U-Bahnhof Güntzelstraße, wo Peter Falk im Film einen nächtlichen Kaffee trinkt.
Anderes hat sich gewandelt: Am Ende der Lohmühlenbrücke steht keine Mauer mehr. Die Oranienstraße, durch die Bruno Ganz hastet, wirkt im Film ärmlich und verkommen und ist heute schon fast schick. Ein weiterer Schauplatz ist beim besten Willen nicht wiederzuerkennen: der Potsdamer Platz. Dabei könnte man die neuerliche Metamorphose vom Niemandsland zum verkehrsdurchdröhnten Hochhausquartier durchaus als ironischen Kommentar auf den Film lesen. „Das kann er hier nicht sein, der Potsdamer Platz, nein“, grübelt der greise Curt Bois, der in seiner letzten Rolle als „Homer“ keuchend die Mauer entlangstolpert.
Mit denselben Worten könnte man heute über den Platz irren und die Leerstelle von 1987 suchen, über der so viel Himmel war und die so viel Platz bot für Projektionen des Vergangenen und des Kommenden. Ein Bild dieser Szene, mit den Stelzen der wenig später abgerissenen Magnetbahn im Hintergrund, hing jahrelang in der Küche meiner WG. Auch die gibt es schon lange nicht mehr.
So offenbart die neuerliche Begegnung mit dem Film auch das eigene Älterwerden und fördert die Erkenntnis, dass für den, der in den Fluss steigt – wie Wenders’ verliebter Engel –, bald nichts mehr ist, wie es war. Das trifft natürlich genauso auf das Personal des „Himmels“ zu. Bruno Ganz ist jetzt Hitler, Peter Falk wird dieses Jahr 80 und Otto Sander begegnet man immer seltener außerhalb der Paris Bar. Solveig Dommartin, die schöne Französin, die damals mit Wenders verheiratet war, ist im Januar 45-jährig an einem Herzinfarkt gestorben. Und Wenders? Nichts, was er nach dem „Himmel über Berlin“ drehte, hat mich wirklich interessiert.
Nur für den „Himmel über Berlin“, für diese Bilder, die mir nicht aus dem Kopf gehen, hätte ich mich fast spontan bei ihm bedankt, als er einmal bei Dussmann neben mir stand, an Heiligabend, einen Stapel DVDs auf dem Arm. Weil ich mich dann doch nicht getraut habe, hole ich es hiermit nach: Danke.
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