DAS DRAMA DER TÜRKEI: IHRE ELITEN SIND UNFÄHIG ZUM KOMPROMISS: Risiko Präsidialsystem
Wer gedacht hat, nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts, die Wahl zum Präsidenten de facto zu stoppen, werde in der Türkei jetzt erst einmal etwas Ruhe einkehren, sah sich getäuscht. Als hätte er nur auf eine solche Entscheidung gewartet, ging Ministerpräsident Erdogan (AKP) sofort wieder in die Offensive. Wenn Armee und Gericht die Wahl eines AKP-Kandidaten durch das Parlament torpedieren, soll der Präsident nun in direkter Wahl durchs Volk bestimmt werden, verkündete der Regierungschef gestern. Veränderung von Amtszeit und Legislaturperiode, neue Gewichtung zwischen Parlament und Präsident – mit ihren Forderungen drängt die AKP die Opposition nur Stunden nach deren vermeintlichem Sieg vor dem Verfassungsgericht wieder in die Defensive.
Mit dieser Taktik treibt Erdogan die anderen Parteien vor sich her und erhöht damit zweifellos seine Chancen an der Wahlurne. Allerdings birgt sie auch zwei große Risiken. Der Ministerpräsident hat deutlich gemacht, dass er den Protest gegen eine Machtanhäufung im religiösen Lager, weit über das Militär, die Altkemalisten und Nationalisten hinaus, nicht versteht. Er sieht deshalb überhaupt keinen Grund, im bevorstehenden Wahlkampf auf die Ängste vieler Türken, vor allem Türkinnen, einzugehen. Im Gegenteil, die Polarisierung und das Lagerdenken werden weiter vorangetrieben. Was die Türkei aber jetzt dringend bräuchte, ist Dialog statt Konfrontation.
Das zweite Risiko ist der jetzt angestrebte tendenzielle Wechsel in Richtung Präsidialsystem. Das sowieso schon stark ausgeprägte Führerdenken in der politischen Kultur der Türkei wird dadurch weiter gesteigert. Statt im Parlament den Kompromiss zu suchen, wird dem Traum vom starken Mann gehuldigt. Dabei krankt die Demokratie in der Türkei vor allem daran, dass die politischen Eliten unfähig zum Kompromiss sind. Diese Unfähigkeit hat die Krise der letzten Tage überhaupt erst ausgelöst und wird mit Sicherheit für die Krisen der Zukunft eine wesentliche Verantwortung tragen. Der vom Volk gewählte Präsident, wenn er denn kommt, wird die demokratische Kultur der Türkei eher schwächen als stärken. JÜRGEN GOTTSCHLICH
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