: Ganze Tage auf dem Kwilu
PORTRÄT Ulrich Köhler hat in „Schlafkrankheit“ Hessen gegen Kamerun getauscht. Am Donnerstag startet sein mit dem Silbernen Bären ausgezeichneter Kinofilm
■ Kindheit: 1969 in Marburg geboren. Lebte in den 70er Jahren mit seinen Eltern in einem Dorf im damaligen Zaire (heute: Kongo).
■ Ausbildung: Er studierte Kunst in der französischen Stadt Quimper, anschließend Philosophie und Visuelle Kommunikation in Hamburg.
■ Filme: „Bungalow“ (2002), „Montag kommen die Fenster“ (2006), „Schlafkrankheit“ (2011).
VON CRISTINA NORD
Vanga ist ein 1.000-Seelen-Ort am Ufer des Kwilu, 400 Kilometer östlich von Kinshasa gelegen. Um von der Hauptstadt des Kongos mit dem Auto dorthin zu gelangen, braucht man drei Tage. Vor 35 Jahren, als das Land noch Zaire hieß und ein Junge namens Ulrich Köhler mit seinem Bruder Neeno und seinen Eltern in Vanga lebte, waren die Straßen in besserem Zustand, so dass man nur einen Tag benötigte. Köhlers Vater arbeitete damals als Arzt und Entwicklungshelfer in der Klinik von Vanga, die Mutter war, was im Jargon der NGOs „mitausreisender Ehepartner“ heißt. Sie half in der Klinik, ohne ein Gehalt zu beziehen, und unterrichtete die Söhne.
Heute ist Ulrich Köhler 41 Jahre alt, im französischen Quimper hat er Kunst, in Hamburg Visuelle Kommunikation und Philosophie studiert, er hat mehrere Kurz- und drei Spielfilme gedreht und im Februar einen Silbernen Bären gewonnen. Seine ersten beiden langen Arbeiten, „Bungalow“ (2002) und „Montag kommen die Fenster“ (2006), spielen mal in Hessen, mal in Südniedersachsen und kreisen um Figuren, die nicht recht wissen, wohin mit sich und ihrem Leben. Im ersten Film ist der Held ein Bundeswehrsoldat, der an einer Autobahnraststätte ausharrt, während seine Einheit weiterfährt, im zweiten eine Ärztin, die Mann, Kind, Eigenheim und Stelle verlässt und fortan wie in Trance durch ein Sporthotel im Harz streift.
„Schlafkrankheit“, der neue, auf der Berlinale ausgezeichnete Film, kommt am Donnerstag mit 30 Kopien ins Kino. Indem er das deutsche Mittelgebirge gegen zentralafrikanische Landschaften eintauscht, macht er einen gewaltigen Sprung. Im ersten Drittel spielt er in Yaoundé, der Hauptstadt von Kamerun, im weiteren Verlauf verschlägt es die Figuren in ein Dorf namens Vanga, wenn auch nicht in das Vanga, in dem Köhler als Kind lebte, sondern in ein erfundenes Vanga irgendwo im Hinterland von Yaoundé. Der Ort besteht aus einem größeren Wohnhaus, Quartieren für Angestellte und heruntergekommenen Klinikgebäuden. Zwischen den Pritschen scharren mehr Hühner, als Kranke darauf liegen. In Wirklichkeit heißt der Ort nicht Vanga, sondern Sakbayeme, und auch er hat einen Bezug zu Köhlers Biografie: Nachdem sein Bruder und er das Abitur gemacht hatten, kehrten seine Eltern zurück nach Afrika, diesmal nach Kamerun, und arbeiteten in Sakbayeme. Heute steht 20 Kilometer entfernt ein anderes Krankenhaus, deshalb sieht die Klinik so vernachlässigt aus.
Im Einbaum unterwegs
An einem warmen Junimittag sitzt Ulrich Köhler in einem Hinterhof in Berlin-Mitte, er trägt Jeans und ein graues Hemd. Komplizen Film, die Produktionsfirma von „Schlafkrankheit“, hat ihr Büro im Gartenhaus, sie wird unter anderem von Köhlers Lebensgefährtin Maren Ade geleitet; auch sie hat, glückliche Symmetrie, einen Silbernen Bären gewonnen, für die famose Tragikomödie „Alle Anderen“ (2010). In den hohen Bäumen zwitschern die Vögel, manchmal maunzt eine Katze, im Himmel bilden sich Wolkentürme, sie kündigen ein Gewitter an. Köhler erzählt von den Jahren in Vanga: „Es war ein Leben in der Natur. Wir waren jagen, wir haben Schlangen gefangen und gebraten und Raupen gegessen.“ Am stärksten prägte sich ihm ein, was er auf dem Kwilu erlebte: „Mit unseren Einbäumen haben wir versucht, den Fluss immer weiter hochzufahren. Wir waren halbe oder ganze Tage außerhalb der Reichweite unserer Eltern irgendwo auf dem Fluss, sind geschwommen, haben gespielt und versucht, Fische zu fangen.“ Sie haben Nilpferde beobachtet und Geschichten gelauscht, über eine Frau, die mit einer Schlange schläft und daraufhin ein behindertes Kind zur Welt bringt, oder über einen Krankenhausleiter, der sich in ein Nilpferd verwandelt und seine Konkurrentin tötet, während sie badet.
Irgendwann wollten die Jungen keine weiße Haut mehr haben, sondern so sein wie alle anderen. „Heimlich gingen wir in den Generatorenraum vom Krankenhaus und schmierten uns komplett mit Öl ein.“ Weil die Eltern vermeiden möchten, dass die Söhne zwischen Sprachen und Kulturen aufwachsen, kehren sie nach Deutschland zurück, im rheinland-pfälzischen Diez lassen sie sich nieder. In der Schule ist Köhler eine Weile lang „der Afrikaner“, doch nach und nach verblasst die Erinnerung an Nilpferde, Schlangen und Generatorenöl. Er vergisst Kikongo, die Sprache; es überfordert ihn, wenn seine Freunde aus Vanga in ihren Briefen um Fußballschuhe oder um Geld bitten. „Das war ein richtiger moralischer Konflikt.“ Der Kontakt verliert sich. Als Jugendlicher engagiert er sich dann gegen die Apartheid in Südafrika. Die Erinnerung an die Jahre in Zaire ist „auf eine abstrakte Ebene gehoben“.
In diesem Sinne ist „Schlafkrankheit“ eine Wiederaneignung, Versatzstücke aus Köhlers Vita treiben durch den Film, ohne dass der deshalb autobiografisch würde. Mehrere Recherchereisen gingen dem Dreh voraus, sie führten Köhler ins echte Vanga, zu einem Ärztekongress im äthiopischen Addis Abeba und in gut 80 Kameruner Krankenhäuser, die er gemeinsam mit dem Szenenbildner Jochen Dehn und dem Kameruner Kollegen Saint Père Abiassi inspizierte. „Uli ist ein perfektionistischer Filmemacher“, sagt Patrick Orth, der Kameramann; seit „Bungalow“ zeichnet er für die Bilder verantwortlich. „Er macht sich manchmal auch ein bisschen verrückt damit.“ Köhler beschreibt es nicht anders: „Ich bin dann doch ein überraschend zwanghafter Mensch in vielem. Beim Drehen zum Beispiel bin ich ein totaler Kontrollfreak.“ Das ist einer von mehreren Gründen, weshalb am Set von „Schlafkrankheit“ nicht alles reibungslos funktioniert. Einige der deutschen Teammitglieder verbringen viereinhalb Monate am Stück fern von Freunden und Familien, das Skript ist kompliziert, der Trockenzeit zum Trotz regnet es, und so ganz kommt Köhler nicht damit klar, dass er mit einem gewaltigen Tross – sein Team wächst rasch auf 60 Leute an – in den abgelegenen Ort einfällt. „So wollte ich eigentlich nie arbeiten in Afrika.“ Patrick Orth sieht es ähnlich: „Man arbeitet dort in einer sehr armen Gesellschaft, und ob man will oder nicht, bleibt man immer der wohlhabende Europäer. Ein Verhältnis auf Augenhöhe gibt es nicht.“
ULRICH KÖHLER
Blockierte Selbständigkeit
Im Film gibt es an strategisch wichtiger Stelle eine Szene, in der ein afrikanischer Wirtschaftswissenschaftler in einem Pariser Seminarraum einen Vortrag über die Gefahren der Entwicklungshilfe hält. Ursprünglich wollte Köhler die Figur mit Dambisa Moyo besetzen, einer profilierten Entwicklungshilfekritikerin; ihre flammende Polemik „Dead Aid“ erschien vor zwei Jahren. Weil „Schlafkrankheit“ einen französischen Koproduzenten hat, fiel die Wahl dann doch auf einen frankofonen Redner. Die zentrale These von Autoren wie Moyo ist, dass Entwicklungshilfe Selbständigkeit blockiere. Sie fördere Korruption, und sie verhindere, dass afrikanische Staaten funktionierende Steuersysteme entwickeln. Was freilich am schlimmsten sei: Trotz milliardenstarker Transferzahlungen ist es um die Entwicklung heute schlechter bestellt als vor 40, 50 Jahren, gleich ob es um das Straßennetz oder die Alphabetisierungsrate geht. Chinesische Investoren, lautet Moyos Fazit, würden in einem Jahr mehr Fortschritt produzieren als europäische und US-amerikanische Hilfsprogramme in den letzten Jahrzehnten. Köhler teilt diese Thesen nicht, trotzdem legt er eine gewisse Skepsis gegenüber dem System Entwicklungshilfe an den Tag, wenn auch „ohne zu einem eindeutigen politischen Ergebnis zu kommen“. – „Man muss einfach wissen, dass die Hilfsindustrie eben das ist: eine Industrie, und dass die Helfer genauso abhängig sind von der Hilfe wie die, denen geholfen werden soll.“
Ein wenig überrascht es, dass „Schlafkrankheit“ sich solcher Fragen annimmt, denn Köhlers vorangegangene Filme verharrten bei den Nöten deutscher Mittelschichtler. Was kein Vorwurf gegen die Filme ist – wer sich auf Privates konzentriert, es präzise in den Blick nimmt, kann mehr gesellschaftliches Interesse an den Tag legen als ein Filmemacher, dessen Arbeiten sich auf politische Sujets und klare Aussagen verpflichten. Vor vier Jahren schrieb Köhler ein Essay für die Internetseite newfilmkritik.de: „Warum ich keine ‚politischen‘ Filme mache“. Politisch in Anführungsstrichen, das ist ihm noch heute wichtig. Die Antwort lautet: weil er das Künstlerische, das Offene, das Mehrdeutige nicht preisgeben möchte. „Kunst ist kein Mittel zum Zweck“, schreibt er. „Sie wehrt sich dagegen, (tages)politisch und gesellschaftlich verwertbar zu sein.“
In „Schlafkrankheit“ verhandelt er das Verhältnis von Europäern und Afrikanern als sanfte Komödie des Missverstehens. Helke Sander, selbst Filmemacherin und einst Professorin von Köhler und Orth, freut sich über den „versteckten Witz, der immer wieder durchleuchtet“. Und sie freut sich darüber, wie „intelligent erzählt“ Köhlers Film ist. Vielleicht verdankt sich diese Intelligenz einem besonderen Transfer. Köhler ist Fan von Lisandro Alonso und Apichatpong Weerasethakul, einem argentinischen und einem thailändischen Regisseur, die ohne europäische Fördergelder keinen ihrer Filme hätten drehen können. Unverkennbar fließen Motive aus „Los muertos“ oder „Syndromes and a Century“ in „Schlafkrankheit“ ein. Solange kulturelle Entwicklungshilfe den Nebeneffekt hat, dass deutsche Filme glücken, ist sie gut angelegt.
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