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Die Rufer in der Wüste

MENSCHENRECHTE In einem historischen Prozess verklagen 24 Flüchtlinge die italienische Regierung. Zu den Verhandlungen dürfen sie nicht kommen

Italien auf der Anklagebank

■  Der Termin: Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet sich nächste Woche die Zukunft der EU-Grenzpolitik. 24 Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia klagen gegen den italienischen Staat, weil sie ihre Menschenrechte verletzt sehen. Am 6. Mai 2009 waren sie von der italienischen Küstenwache an das libysche Regime ausgeliefert worden. Sie gaben an, dass sie in Gefangenenlagern gefoltert worden seien.

  Die Situation: 1.409 Migranten erlebten bis Ende 2010 ein ähnliches Schicksal. Italien beruft sich auf ein Kooperationsabkommen mit Libyen zur Abwehr illegaler Migration. Das Prozessergebnis steht erst in einigen Monaten fest.

AUS ROM GABRIELE DEL GRANDE

Fast hatten sie es geschafft: Schon fünf Tage lang waren die 227 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer unterwegs, bald würden sie auf der italienischen Insel Lampedusa an Land gehen. Doch an jenem 6. Mai 2009 brachte die italienische Küstenwache die Schutzsuchenden nicht ans rettende Ufer, sondern lieferte sie als erste Migranten an das Gaddafi-Regime in Tripolis aus. Insgesamt 1.409 Migranten erlitten bis Ende 2010 dieses Schicksal – im Nu war das Vorgehen Routine geworden. Routine – aber kein Recht.

Davon sind zumindest 24 Flüchtlinge aus der Gruppe der 227 überzeugt, die jetzt Gerechtigkeit fordern: Gemeinsam mit dem italienischen Menschenrechtsanwalt Anton Giulio Lama haben sie im Dezember 2009 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Anklage erhoben. Für kommenden Mittwoch ist die abschließende Verhandlung geplant. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die Zukunft der europäischen Grenzpolitik: Denn eine Verurteilung könnte den Einreisestopp ein für alle Mal beenden.

In Lamas Anwaltsbüro stapeln sich Akten voller schwerer Vorwürfe: Die Kläger hatten berichtet, wie sie in einem Gefangenenlager in der libyschen Wüste eingesperrt und gefoltert wurden – einem Lager, das die EU mitfinanziert hat, als Basis für eine künftige Zusammenarbeit mit Gaddafi.

Lama glaubt an Gerechtigkeit. Und diesen Glauben braucht er, denn er vertritt die 24 ehrenamtlich. Alle paar Wochen nimmt einer der Kläger Kontakt zu ihm auf; die E-Mails und Anrufe lässt er sich aus dem Tigrinischen und dem Somali ins Italienische übersetzen und dolmetschen. Viel Aufwand, doch für den Prozess sind die Details ihrer Aussagen entscheidend. Schon 2005 hatte Lama eine erste Anklage gegen die italienische Regierung erhoben, weil sie elf liberianische Flüchtlinge ausgewiesen hatte. Damals hatten die Kläger den Kontakt zu Lama nicht halten können; sie verloren den Prozess. Doch dieses Mal ist alles anders – und Lama optimistisch. Dass Straßburg den Prozess vor der Großen Kammer verhandle, sei ein gutes Zeichen, sagt er.

Bei der Verhandlung am Mittwoch wird sich Anton Giulio Lama auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und auf die Grundfreiheiten berufen: Demnach hätte Italien die Schutzsuchenden nicht in ein Land bringen dürfen, in dem Folter droht – ohnehin nicht als kollektive Deportation. Sie seien weder nach ihren Namen gefragt worden noch durften sie politisches Asyl beantragen oder Berufung bei einem italienischen Gericht einlegen, sagt Lama.

Doch wer sind die Angeklagten in diesem Prozess? Fest steht: Der Deportationsbefehl kam von ganz oben – vom italienischen Innenminister Roberto Maroni, der die Operation einen Tag später als „historischen Wendepunkt“ bezeichnete. Und hinzufügte: „Libyen ist Teil der UN: Es gibt dort also UN-Beauftragte, die entscheiden können, ob diese Personen berechtigt sind, politisches Asyl zu beantragen.“ Eine glatte Lüge. Denn zur gleichen Zeit forderten die Vereinten Nationen Italien auf, die Abschiebungen nach Tripolis zu stoppen und das Recht auf politisches Asyl zu respektieren.

Dass die Flüchtlinge heute von ihrem Recht auf Beschwerde Gebrauch machen können, ist ein seltener Glücksfall: Mitarbeitern von Menschenrechtsorganisationen war es gelungen, die Flüchtlinge im Gefangenenlager zu besuchen und ihre Zeugenaussagen aufzunehmen. Nur mithilfe von Korruption hatten sie sich überhaupt aus dem libysch-europäischen Gefängnis befreien können – eine Aussicht auf ein Gerichtsverfahren hatte es nicht gegeben. Die 24 Kläger leben heute verstreut in verschiedenen Ländern, die meisten in Flüchtlingslagern. Wer konnte, war vor dem Libyenkrieg geflohen. Ein Kläger ist während des Prozesses ertrunken, als er die Überfahrt erneut riskierte.

Indessen ist Europas alter Freund Gaddafi zum Feind Nummer eins geworden. Aktuell duldet Italien daher die Einreise; seit Anfang des Jahres kamen 20.000 Menschen aus Tripolis auf Lampedusa an. Die Übergangsregierung der Aufständischen in Bengasi hat sich allerdings schon bereit erklärt, auch in Zukunft deportierte Flüchtlinge entgegenzunehmen. Denn Rom und Brüssel wollen die Auslieferungen wieder aufnehmen, sobald der Krieg vorbei ist – nur das Urteil des Straßburger Gerichts kann dies noch verhindern.

Allen 24 Klägern hätte in Europa politisches Asyl zugestanden: Die elf Eritreer hatten in einer Militärdiktatur den Kriegsdienst verweigert; die 13 Somalier waren aus einem Land geflohen, in dem seit zwanzig Jahren Bürgerkrieg herrscht. Wenn am Mittwoch die Stunde der Entscheidung schlägt, wird jedoch keiner der Kläger anwesend sein – eine Einreisegenehmigung haben sie nicht bekommen. Übersetzung: Riccardo Valsecchi

Gabriele del Grande bloggt auf www.fortresseurope.blogspot.com über Migration.

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