die taz vor 16 jahren über den trübseligen zustand der spd nach der vereinigung:
Es gehört zu den deprimierenden Eigenschaften der SPD, daß sie mit Vorliebe dort Geschlossenheit demonstriert, wo Streit angesagt ist. Natürlich sind Parteitage Instrumente im Wahlkampf. Eine Woche vor der Hamburger Wahl liegt es nahe, eine geschlossene Parteiführung zu präsentieren. Aber zwischen einem Ritual der Geschlossenheit, das aufgeboten wird, um einen zerreißenden Streit abzufangen, und einem Ritual, das abläuft, weil man in einer zerrissenen Realität gar nicht mehr zu streiten weiß, ist ein himmelweiter Unterschied. Zeigen nicht die realsozialistischen Wahlergebnisse der Parteiführung einen Mangel an inhaltlichen Alternativen?
Ist dieses ökonomisch, sozial und kulturell geteilte Land nicht schon auf dem besten Wege, sich auch politisch zu spalten? Kann man heutzutage von Solidarität reden wie Johannes Rau, ohne zu sagen, wer da was opfern muß? Was heißt denn „sozial“ und „demokratisch“ im vereinten Deutschland? Machen die sozialstaatlichen Garantien noch Sinn, wenn eine gesellschaftliche Umwälzung bewältigt werden muß? Ist das westliche Angebot sozialer Sicherheit wirksam, wenn die Verwaltungen fehlen, um es umzusetzen? Muß nicht eine Verwaltungsreform im großen Stil angezielt werden? Muß man nicht dann in den Streit mit gewerkschaftlicher Besitzstandswahrung geraten? Kann die Demokratie einfach von oben her auf den Osten übertragen werden? Geht es nicht um die Demokratisierung von Ostdeutschland? Müßte diese Frage nicht im Zentrum eines sozialdemokratischen Parteitages stehen? Wird nicht erst jetzt in Westdeutschland bewußt, daß mit der Vereinigung und dem Ende des Eisernen Vorhangs auch die Wohlstandsinsel Bundesrepublik untergegangen ist? Wäre es nicht geradezu die Pflicht der SPD, die Realität zu thematisieren, die die Regierung aus verständlichen Interessen leugnet? Eines steht jetzt schon fest: die Fragen, die vor dem Bremer Parteitag der SPD gestellt sind, bleiben dieselben. Klaus Hartung, taz, 31. 5. 1991
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