: Warum ausgerechnet diese Stadt?
LEBEN UND STERBEN IN CIUDAD JUÁREZ Aus dem verschlafenen Provinznest, gegründet im 17. Jahrhundert als Pferdestation an einem alten Indianerpfad, ist heute die Welthauptstadt des Verbrechens geworden
VON TONI KEPPELER (TEXT) UND TEUN VOETEN (FOTOS)
Ciudad Juárez ist eine Stadt, die es nicht geben sollte. Zumindest nicht so, als Welthauptstadt des Verbrechens. 2008 gab es rund 1.000 Morde, 2009 waren es gut 2.000 und im vergangenen Jahr über 3.000. Und das in einer Stadt mit gerade mal 1,3 Millionen Einwohnern. Statistisch gesehen sind Bagdad oder Kabul im Vergleich dazu sichere Orte. Und nichts deutet darauf hin, dass es 2011 besser werden könnte. Wer geht da schon gern hin?
„Niemand“, sagt die junge Frau im Tourismusbüro gleich hinter der Autobahnbrücke, die hinüberführt nach Texas. Eine lichtdurchflutete Halle, die Klimaanlage hat die Temperatur auf Kühlschrankniveau heruntergedrückt. An den Wänden Regale mit Prospekten. Draußen, auf dem Mittelstreifen der Grenzautobahn haben Händler ihre ambulanten Büros aufgebaut, mit Minischreibtisch, Laptop und Drucker, betrieben von einer Autobatterie. Sie verkaufen Autoversicherungen für die USA. In Mexiko sind Haftpflichtversicherungen für Autos nicht obligat, nur 25 Prozent der Autobesitzer haben eine.
Besucher des Tourismusbüros müssen sich in ein dickes Buch eintragen, mit Datum, Name, Herkunftsland und dem Grund ihres Besuchs in Ciudad Juárez. Der letzte Besucher kam vor vier Tagen. Ein Mexikaner. Er hat denselben Grund angegeben wie alle auf dieser Seite und auf den Seiten davor: Visumsangelegenheiten. Er war auf der Suche nach dem US-Konsulat ins Büro gekommen. Nach einigem Blättern erst stößt man auf den ersten Ausländer. Einen US-Amerikaner, der als Grund seines Aufenthalts angegeben hat: „Der einzige Tourist in Ciudad Juárez.“
„Es kommen keine Touristen mehr“, sagt die Angestellte. Das sei schon so, seit sie hier arbeite. Vor drei Jahren sei sie gekommen, aus der Hauptstadt, wegen des Jobs. Ob sie denn keine Angst habe? „Nein“, sagt sie. „Die Presse übertreibt. Mir ist noch nichts passiert.“ Ihren Namen will sie nicht nennen. Also doch Angst? „Nein“, sagt sie und lacht. Es sei einfach so, dass nur der Chef Auskünfte geben dürfe, die über touristische Informationen hinausgehen.
„Ein bisschen aufpassen“
Und was lohnt sich, rein touristisch gesehen, in Ciudad Juárez? „Das historische Zentrum ist ganz nett“, sagt sie. Und auch sicher? „Aber ja. Da ist es ruhig, da können Sie am Tag ohne Sorge spazieren gehen. Nachts müssen Sie ein bisschen aufpassen. Aber wo muss man heutzutage nachts nicht aufpassen?“ Sie geht ins Lager hinter dem Besucherraum und sucht eine Broschüre: Downtown historic walkingtour. „Haben wir leider nur auf Englisch.“ Das Heft ist aus dem Jahr 2001. Vom Drogenkrieg steht kein einziges Wort drin. Auch nicht von den hunderten von Frauenmorden, die es damals schon gab und die Ciudad Juárez über Mexiko hinaus bekannt gemacht haben.
Das Zentrum der 1,3-Millionen-Stadt ist nicht so, wie man es von einer boomenden Millionenstadt erwartet. Eine dem Kolonialstil nachempfundene Kathedrale, der Platz davor ein kleiner Park. Drum herum heruntergekommene Häuser mit Arkadengängen, aus den Läden plärrt Mariachi-Musik. Sie verkaufen billige Klamotten und Haushaltswaren.
Um die Mittagszeit füllt sich der Park. Die Männer tragen Cowboyhüte oder Baseballkappen. Viele haben einen Schnauzer, manche sogar Schlangenlederstiefeletten. Sie setzen sich auf die Bänke und Mäuerchen im Schatten und essen die von ambulanten Händlern angebotenen Hotdogs und Tacos. Fast jedes Provinzstädtchen Mexikos hat ein derartiges Zentrum.
Nur ein paar fotokopierte Blätter, an die Säule einer Arkade geklebt, erinnern an Mord und Totschlag. Sie zeigen Fotos und Beschreibungen von jungen Frauen, die spurlos verschwunden sind. Die älteste aus dieser Sammlung verschwand bereits 1998, in dem Jahr, in dem die jüngste geboren wurde. Wegen der vielen anderen Toten hat man die Frauenmorde schon fast vergessen.
Für die wahnsinnige Kriminalität gibt es eine einfache Erklärung: Sie sei das Ergebnis des Kampfs zweier Drogenkartelle gegeneinander und des Kampfs beider gegen Polizei und Militär. Das ist richtig, kann aber nicht die ganze Wahrheit sein. Die schnelle Antwort blendet die Frage aus: Warum gerade Ciudad Juárez? Es gibt auch andere Grenzstädte, in denen Kartelle um die Vorherrschaft streiten. Tijuana oder Mexicali; Nuevo Laredo, Reynosa, Matamoros.
Stadt ohne Plan
Ja, warum eigentlich Ciudad Juárez, diese Stadt, die scheinbar sinnlos mitten in die Wüste von Chihuahua gebaut wurde. Mit einem provinziellen Zentrum, langweiligen Wohngegenden, Geschäftsvierteln und Industriegebieten, einfach so hingeschüttet in die breite Ebene des Juárez-Tals, die Stadtteile verbunden durch vielspurige Straßen, scheinbar ohne jeden Plan. Im Sommer herrschen hier über 40 Grad Hitze, im Winter bis zu 20 Grad Kälte. Die Stadt hat endlos viel Platz zum Wachsen und Wuchern. Nur der Río Grande im Norden ist eine Grenze. Dahinter beginnen die USA.
Wäre diese Grenze nicht, wäre Ciudad Juárez noch immer das verschlafene Provinznest, das es lange war. Gegründet wurde es am 8. Dezember 1659 unter dem Namen Presidio Paso del Norte, als Zwischenstation an einem alten Indianerpfad durch die Wüste. Hier konnte man die Pferde tränken. Als der Flecken 1848 nach dem Krieg zwischen Mexiko und den USA entlang des Río Grande geteilt wurde, hatte er gerade mal knapp 2.000 Einwohner. Der nördlich gelegene Teil heißt bis heute El Paso und liegt in Texas, das mexikanisch gebliebene Paso del Norte wurde 1888 in Ciudad Juárez umbenannt. Man wollte damit Präsident Benito Juárez (1861–1872) ein Denkmal setzen. Der war im Oktober 1864 vor französischen Interventionstruppen in das Kaff in der Wüste geflohen und hatte ein Jahr lang dort residiert.
Benito Juárez war ein durch und durch liberaler Politiker, der unter anderem das indianische Gemeindeland abschaffen wollte. Fortschritt, glaubte er, gäbe es nur mit Privateigentum und Kapitalismus. Die Entwicklung, die Ciudad Juárez Ende des 20. Jahrhunderts genommen hat, hätte ihm gefallen: Innerhalb weniger Jahre wurde aus der langweiligen Wüstenstadt ein Zentrum der Fertigungsindustrie. Vor allem Textil- und Elektrofirmen ließen sich dort nieder. „Maquiladoras“ nennt man diese Schwitzbuden. Im Tourismusprospekt rühmt sich die Stadt, Pionier auf diesem Gebiet gewesen zu sein.
Fortsetzung am kommenden Mittwoch, 6. Juli
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