24 stunden spreebogen, folge 6: Von 5 bis 6 Uhr
Um 5.27 Uhr schiebt sich links von der Charité dunkelgelb die Sonne aus den Wolken. Dies ist für den Tag die Stunde des Anbrechens – und das Regierungsviertel gibt eine gute Kulisse dafür ab. Die Kuppel auf dem Reichtag funkelt im frühen Licht. Erste Jogger schleppen sich die Spree entlang; alle haben iPod-Stöpsel in den Ohren. Im Hauptbahnhof gibt es schon einige Power-Menschen zu sehen, mit Rollkoffern stehen sie beim Bäcker um Kaffee an. Die Müllabfuhr war aber noch nicht da. Die Mülleimer an der Spree sind voll. Zwischen Plastikbechern von Starbucks und Verpackungen von Burger King nimmt sich die leere Flasche Eckes Edelkirsch wie alte Bundesrepublik, aber auch hübsch bunt aus.
Und im Tierreich ist schon wirklich was los. Nur die Enten sind offenbar die Langschläfer unter den Vögeln. Paarweise liegen sie am Ufer der Spree und halten ihre Köpfe unter ihre Flügel. Die Reiher dagegen sind schon fleißig am Fischen. Falls jemand mal, nur so eine Idee, einen politischen Roman schreiben wollte, könnte er einen Abgeordneten nach durchgrübelter Nacht in dieser Stunde aufs Wasser gucken und schwermütige Betrachtungen anstellen lassen. Die Enten könnten ihm als Inbild von behäbigen Hinterbänklern erscheinen, und die Reiher, das sind die tollen Hechte, die fitten Jäger; in der Realität kämpfen sie sich ja auch wirklich um diese Zeit aus den Betten, um für die morgendlichen Statements bereitzustehen.
Ich will mir gerade einen Namen für diese Romanfigur ausdenken und sie darüber nachdenken lassen, ob sie Ente oder Reiher sein will, da sehe ich im Augenwinkel einen Schatten ins Wasser tauchen. Kreisrunde Wellen zeigen an, dass da wirklich etwas war. Ich warte. Erstaunlich lange Zeit später sehe ich einen schwarzen Vogel – ist das ein Kormoran? – mit einem Fisch im Schnabel auftauchen, den Fisch verschlucken und sofort wieder starten. Mein melancholischer Abgeordneter würde erschrecken. Die glatte Oberfläche des Wassers und darunter das Fressen-und-Gefressenwerden. Meinem Abgeordneten könnte das wie ein Symbol für den Politbetrieb insgesamt vorkommen.
Um 5.52 Uhr drehe ich mich noch einmal zur Sonne. Sie ist schon ein gutes Stück weitergerückt und steht jetzt rechts vom Charité-Hochhaus. Unerbittlich rollt die Mechanik auch dieses Tages ab. Bald geht das Regieren los. DIRK KNIPPHALS
Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 6 bis 7 Uhr: am kommenden Samstag
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