: Aus freien Stücken in die Platte
WOHNEN 60 Menschen gründen ein Hausprojekt in einem ehemaligen Stasi-Verwaltungsgebäude in Lichtenberg, um gemeinsam darin zu leben. Dafür haben sie das Haus nicht besetzt, sondern gekauft. Geholfen hat ihnen das Mietshäuser Syndikat – das Gebäude soll so dauerhaft der Immobilienspekulation entzogen werden
■ Das Mietshäuser Syndikat, eine nichtkommerzielle Beteiligungsgesellschaft, wurde 1992 in Freiburg gegründet. Anliegen des Syndikats ist es, Hausprojekte zu fördern und Häuser dem Immobilienmarkt zu entziehen.
■ Das funktioniert über ein spezielles Modell: Das Haus gehört einer eigens geschaffenen GmbH, in der sowohl die BewohnerInnen in Form eines Hausvereins als auch das Mietshäuser Syndikat vertreten sind. Bei Grundsatzentscheidungen haben beide Vetorecht.
■ Alle Projekte zahlen außerdem in einen Solidarfonds ein, aus dem neue Projekte in der Anlaufphase unterstützt werden. (mgu)
TEXT MALENE GÜRGEN FOTOS AMÉLIE LOSIER
Der weiße Baustaub ist überall. Er verteilt sich über alle sechs Stockwerke in der Magdalenenstraße 19 und bedeckt die schweißgebadeten Menschen, die hier mit dem Herausreißen des Fußbodenbelags beschäftigt sind. Es ist „Bauwochenende“, etwa 30 künftige BewohnerInnen sind zum Arbeitseinsatz erschienen. Ausgestattet mit Schutzbrillen und Spachteln kämpfen sie in den verschiedenen Zimmern mit dem PVC-Boden, der offenbar stärker verklebt ist als angenommen.
Im zweiten Stock steht Andreas Neumann dort, wo er bald wohnen wird. Der 30-jährige Erwerbslose zeigt zufrieden auf die großen neuen Fenster, durch die viel Licht kommt. Von hier aus fällt der Blick auf das Gelände des ehemaligen Stasi-Verwaltungskomplexes – auf leerstehende Plattenbauten mit grauen Fassaden. Viel belebter geht es dagegen in der Magdalenenstraße 19 zu. Hier lässt sich die Verwandlung in ein Hausprojekt schon erahnen: Zwischen zwei Zimmern gibt es einen großen Durchbruch, dort soll die Wohnküche entstehen, ansonsten haben alle Zimmer im Haus eine Einheitsgröße von 16 Quadratmetern. Das Bad fehlt, die Fußböden sind noch nicht verlegt – trotzdem: „Anfang 2015 wollen wir einziehen, und bisher sind wir gut im Zeitplan“, sagt Neumann.
Mit Freunden wohnen
In die Platte will Neumann mit sieben Erwachsenen und zwei Kindern in eine Wohngemeinschaft ziehen. Momentan lebt er in Neukölln, Mitglied des Hausprojekts ist er seit zwei Jahren. „Mich reizt der politische Gedanke hinter dem Projekt“, sagt er, „aber auch die Perspektive, langfristig in einem Haus mit Freunden oder Gleichgesinnten zu wohnen, statt mit anonymen Nachbarn.“ Insgesamt besteht die Gruppe aus fast 60 Menschen, meist zwischen Mitte 20 und Mitte 30 alt, auch ein paar Ältere und Kinder sind dabei. „WiLMa 19“ nennen sie sich, eine Abkürzung für „Wohnen in Lichtenberg, Magdalenenstraße 19“.
Im Frühling 2012, erinnert sich Neumann, kam der Anruf vom Mietshäuser Syndikat, einem Verbund von Hausprojekten, mit dem sich die Gruppe schon lange um ein Gebäude bemüht hatte. Das Syndikat hatte ein zum Verkauf stehendes Haus ausgemacht: einen Plattenbau, außerhalb des S-Bahn-Rings und ehemals Teil des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit.
„Ich glaube nicht, dass viele von uns vorher regelmäßig in Lichtenberg waren – außer vielleicht zu Antifa-Demos“, sagt Neumann und lacht. Ein Teil der Gruppe sei deshalb damals ausgestiegen, die Mehrheit aber blieb dabei. Andere Hausgruppen auf der Suche nach Immobilien schlossen sich an. „Wir haben uns schnell mit dieser Idee angefreundet, die ja auch ihre charmanten Seiten hat“, sagt Neumann. Raus aus den Szenebezirken, rein in einen ungewohnten, aber dadurch auch herausfordernden Kiez.
Außerdem bietet die Platte einige Vorteile: Das Haus hat mit 2.300 Quadratmetern Wohnfläche so viel Platz, dass die Gruppe entschied, das Erdgeschoss an politische Vereine zu vermieten. Auch ein Veranstaltungsraum als Kieztreffpunkt ist geplant. Und der 1.000 Quadratmeter große Innenhof, die gerade mit Bauschutt zugestellte Betonfläche, soll ein Garten werden. Dafür entwickelt die Garten-AG gerade ein Konzept, während sich die Struktur-AG Gedanken über interne Entscheidungsmechanismen macht. Ein Hausprojekt bedeutet eben auch Selbstverwaltung – und die kann ganz schön Arbeit machen: Eine Reihe von Leuten arbeite bis zu 20 Stunden pro Woche für das Haus, erzählt Neumann. Das ist keine Bedingung, um einziehen zu dürfen – aber ohne dieses Engagement würde es nicht funktionieren.
„Die Bereitschaft zur Selbstverwaltung ist eine zentrale Voraussetzung für Gruppen, die Teil des Mietshäuser Syndikats sein wollen“, sagt Bernhard Hummel. Hummel war früher Hausbesetzer, heute ist er ehrenamtlich für das Berliner Büro des Mietshäuser Syndikats tätig. Für die WiLMa 19 arbeitet er als Architekt. Alle Sanierungspläne werden in Abstimmung mit den künftigen BewohnerInnen erarbeitet. Gemeinsam wird entschieden, welche Wärmedämmung geeignet ist oder ob alle Wohnungen einen Balkon bekommen.
Auf der Baustelle ist inzwischen Mittagspause. Ein paar Leute haben gekocht, zwischen Handschuhen und Schutzbrillen ist der Tisch gedeckt. Trotz Erschöpfung ist die Stimmung gut, es wird viel gelacht. So harmonisch geht es nicht immer zu: 60 Menschen, die ihr Zusammenleben planen, das birgt Stoff für Konflikte. „Es gab schon Themen, die hitzig diskutiert wurden“, sagt Else Hilbig, 29, die gemeinsam mit ihrer jetzigen WG-Mitbewohnerin und ihrer fünfjährigen Tochter einziehen wird. Dabei ging es immer wieder um den Kompromiss zwischen den Erfordernissen eines auf Jahrzehnte angelegten Wohnens und dem Anspruch, die Mieten günstig zu halten. Fragen wie: Bauen wir mit der teureren Trittschalldämmung, um langfristig Konflikte zu vermeiden, auch wenn das die Mieten steigen lässt?
Faire Gesprächskultur
„Zum Glück hatten wir immer eine sehr faire, pragmatisch orientierte Gesprächskultur“, sagt Hilbig. Von Anfang an sei es der Gruppe ein Anliegen gewesen, sich eine klare und transparente Entscheidungsstruktur zu geben – auch um die emotional aufgeladenen Konflikte zu vermeiden, an denen sich Hausprojekte gern entzweien. In der WiLMa 19 gilt die sogenannte Etagen-Autonomie: Über die neue Mitbewohnerin oder die Farbe der Fliesen im Bad berät nicht das ganze Haus, sondern die jeweilige Etage. Auf den Hausversammlungen wird nur entschieden, was alle betrifft. Dabei gibt es grundsätzliche Haltelinien, etwa, dass die Miete den Mietspiegel nicht übersteigen darf.
Die grundlegendste politische Entscheidung ist die Mitgliedschaft des Projekts im Mietshäuser Syndikat. Durch sie soll ein weiteres Problem vieler Hausprojekte umgangen werden: die Gefahr, dass das kollektive Projekt irgendwann in Privateigentum umgewandelt wird. Bei Syndikats-Projekten ist das nicht möglich: Die Organisationsform gibt dem Verbund von Hausprojekten ein Vetorecht bei Verkaufsentscheidungen. Das Gebäude, so die Idee, wird so dauerhaft der Immobilienspekulation entzogen. Gleichzeitig bedeutet das Konzept aber auch: Seine Wohnung wird niemand zu Geld machen oder vererben können. „Es braucht schon eine gewisse Überzeugung, um viel Geld und Arbeit in einen Hauskauf zu stecken und gleichzeitig auf die materiellen Vorteile von Immobilieneigentum zu verzichten“, sagt Hummel.
Vorteile gegenüber einer regulären Mietwohnung gibt es trotzdem: Die BewohnerInnen sind nicht nur sicher vor Mieterhöhungen; die Mieten sind in der Regel auch besonders niedrig, denn schließlich kann mit dem Haus niemand Rendite machen. „Die Mieteinnahmen werden ausschließlich zur Kreditrückzahlung und für gemeinsam beschlossene Ausgaben verwendet“, sagt Neumann. Und Else Hilbig meint: „Die Perspektive, in Berlin wohnen zu können, ohne mich jedes Jahr vor einer Mieterhöhung fürchten zu müssen, ist ein großer Teil meiner Motivation für das Projekt.“ Dann verschwindet sie im fünften Stock – wo noch viele Zimmer mit PVC-Boden auf sie warten.
„Gerade in Berlin ist das Interesse an dieser Wohnform in den letzten Jahren sehr gestiegen“, berichtet Hummel. Acht der insgesamt 16 Berliner Syndikats-Projekte sind in den vergangenen zwei Jahren entstanden, pro Jahr bekommt das Berliner Büro mittlerweile Anfragen von bis zu 100 Gruppen. „Wir merken ganz deutlich, wie sich der Wohnungsmarkt verändert“, so Hummel. Die günstige Fabriketage, mehrere freie Wohnungen in einem Haus: Das gibt es immer seltener. Gleichzeitig fällt es auch dem Syndikat immer schwerer, geeignete Häuser und Grundstücke zu finden: „Vor zehn Jahren ging das noch problemlos, heute haben wir endlose Wartelisten.“ Zwar würden nicht alle Gruppen letztendlich zum Syndikats-Konzept passen, theoretisch könnten aber viel mehr Projekte verwirklicht werden – wenn es nur die passenden Häuser gäbe.
Kredite von Bekannten
In der Magdalenenstraße hatte die Gruppe Glück: Sie erhielt im Bieterverfahren den Zuschlag. Finanziert wurde der Kaufpreis von gut einer Million Euro zu einem Drittel über private Kleindarlehen, die die Gruppe selbst eintrieb, die anderen zwei Drittel werden mit einem Bankkredit bestritten. Anders als bei Genossenschaften muss, wer einziehen will, nicht unbedingt Kapital einbringen – dafür aber die Bereitschaft, Zeit zu investieren, etwa zum Einholen der Darlehen. Neumann und Hilbig fragten ihre Familien, klapperten den Freundeskreis ab und führten viele Überzeugungsgespräche.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen ist die Sonne rausgekommen und lässt das grau verputzte Haus gleich freundlicher aussehen. „Ich bin fast ein bisschen verknallt in dieses Projekt“, sagt Hilbig. Zwar gebe es noch viele Unsicherheiten, „viele Fragen und Diskussionen werden sich ja auch erst im Zusammenwohnen ergeben“, sagt sie. „Aber ich habe so ein Grundvertrauen in dieses Konzept, das mich sehr zuversichtlich macht.“ Ob das Haus nun Platte oder Altbau ist und ob es innerhalb oder außerhalb des S-Bahn-Rings liegt, scheint in diesem Moment sehr nebensächlich.
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