: Wie Gegenwart entstanden ist
SCHÖNEBERG-TEMPELHOF Mit der Ausstellung „Berlin, Blicke“ im Haus am Kleistpark verabschiedet sich Katharina Kaiser, Leiterin des Kunstamtes. Sie hat die Fotografie gefördert und die Erinnerungsarbeit im Bezirk
■ verabschiedet sich dieses Jahr als Leiterin des Kunstamts Tempelhof-Schöneberg, das sie seit 1983 führte. Zuvor hatte sie ein Pädagogik- und kunstwissenschaftliches Studium in Münster und Berlin abgeschlossen. Katharina Kaiser wurde nach der Flucht ihrer aus Oberschlesien stammenden Familie 1947 in Bayern geboren.
VON BRIGITTE WERNEBURG
Ein Tisch, schon in der Unschärfe, darauf ein Glas Saft, davor eine Frau; der Fokus liegt auf ihren Händen, die eine schwarze altmodische Handtasche festhalten, erkennbar ist auch der linke Arm, der in einer fröhlichen, hellgelben Häkelstrickjacke steckt. Ein brauner Krückstock, der wie ein Ausrufezeichen an der weißen Wand lehnt, unscharf dahinter der Raum. Schließlich der Saum einer Tischdecke, den ein Clip mit zwei Zitronen aus Eisen beschwert, damit das Tischtuch nicht weggeweht wird. Jede dieser Fotografie fasziniert: Jedes Bild steht in seiner ruhigen, ausschnitthaften Schönheit für sich – und doch fügt es sich mit den anderen Bildern zu einer rudimentären, atmosphärisch dennoch dichten Erzählung über das Alter, das Leben im Altersheim.
Das Altersheim gegenüber
Mit dieser Serie wurde die französische Fotografin Karine Azoubib im Jahr 2003 Preisträgerin des von der Kommunalen Galerie Tempelhof-Schöneberg ausgelobten Arbeitsstipendiums. Gefördert wird damit die zeitgenössische Fotografie, die sich im weitesten Sinne mit der Wirklichkeit des Großstadtbezirks Tempelhof-Schöneberg auseinandersetzt. Wenn sie sich nicht in Paris aufhält, lebt und arbeitet Karine Azoubib in Schöneberg. Von ihrer Wohnung aus schaute die Künstlerin jeden Tag auf die Eingangstür des gegenüberliegenden Altenheims. So keimte in ihr langsam die Idee, statt der Sozialreportage einfach die Poesie der Dinge für die Situation sprechen zu lassen.
Ins Leben gerufen wurde der Preis von Katharina Kaiser: schon 1990, als die Fotografie noch sehr wenige Fürsprecher im Kunstbereich hatte. Jetzt, zum zwanzigsten Jubiläum, sind im Haus am Kleistpark noch einmal alle Preisträger mit ihren Arbeiten versammelt. „Berlin, Blicke“ ist Katharina Kaisers letzte Ausstellung, jedenfalls in ihrer Funktion als Leiterin des Kunstamts Tempelhof-Schöneberg, und sie macht auf das Schönste deutlich, worin ihr Genie als Kunstamtsleiterin bestand: Ganz deutlich verankerte sie ihre Arbeit von Anfang an im Bezirk, dessen gegenwärtige und vergangene Geschichte sie zum Ausgangspunkt ihrer Vermittlungsarbeit machte. Gleichzeitig dockte sie aber ganz dezidiert an die aktuellen Strömungen der zeitgenössischen Kunst an. Auf diese Weise gelang es ihr oft genug, die besten konzeptuellen Projekte und Ausstellungen der ganzen Stadt zu präsentieren.
Etwa als es darum ging, in einem von Senat und Kunstamt ausgelobten Wettbewerb, an das Schicksal jener 6.000 Schöneberger BürgerInnen zu erinnern, die nach 1933 als Juden erst diffamiert, dann entrechtet und schließlich mörderisch verfolgt wurden. Mit dem Siegerentwurf von Renata Stih und Frieder Schnock entstand 1993 im Bayerischen Viertel ein dezentrales Denkmal, das national wie international zu Recht als bahnbrechend für die Mahnmalskultur gewürdigt wurde. Achtzig Metalltafeln, auf der einen Seite mit Gesetzestexten, auf der anderen mit den entsprechenden, signethaften Illustrationen bedruckt, berichten ebenso eindringlich wie unaufdringlich von der Ausgrenzung der jüdischen SchönebergerInnen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft während der Nazi-Zeit.
Gedächtnisgeschichte
Den konzeptuellen Charakter der von ihr geförderten künstlerischen Gedächtnisgeschichte erklärt Katharina Kaiser damit, dass „die Beschäftigung mit Geschichte, mit dem, was ich das Gedächtnis der Stadt nenne, für mich nie etwas Rückwärtsgewandtes ist. Es ist etwas, das ich brauche, wenn ich die Gegenwart erklären will. Etwas, das mir zeigt, wie die Gegenwart entstanden ist.“ Und dass sie damit richtig liegt, zeigen die Reaktionen auf die Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg. „Wenn da die Schulen kommen“, berichtet sie, „dann sagen die Lehrer als Erstes, die Schüler lesen sowieso nicht. Und siehe da, die Schüler lesen. Weil sie etwas entdecken können, wie in einem privaten Fotoalbum, und das geht sie dann an. Und dann wollen die gar nicht aufhören zu lesen.“
Die Ausstellung erweitert die „Orte der Erinnerung“ von Stih und Schnock. Die bürokratische Entrechtung findet hier nun Niederschlag in den individuellen Lebensgeschichten von mittlerweile rund 140 ehemaligen jüdischen Bewohnern des Bayerischen Viertels. In sorgsam erarbeiteten Alben, die, von einer kleinen Leselampe beleuchtet, auf den langen Pulten des strengen, schmalen Rathausraums liegen, ist ihr Schicksal in offiziellen Dokumenten, privaten Briefen und Fotos, Ausreiseanträgen und Ähnlichem mehr nachzulesen. Mehr als zwanzig Jahre Arbeit liegen dem work in progress zugrunde, dessen Fundus noch immer anwächst. Galt es doch, die vertriebenen ehemaligen Schönebergern erst aufzuspüren, dann Kontakt mit ihnen aufzunehmen und sie schließlich zur Mitarbeit zu gewinnen.
Ein langer Atem
Ein langer Atem, also Durchhaltevermögen ist zweifellos die große Tugend von Katharina Kaiser. Anders sind Langzeitprojekte wie „Orte der Erinnerung“, „Wir waren Nachbarn“, aber auch das Foto-Arbeitsstipendium nicht durchführbar. „Nur durch Kontinuität“, sagt Katharina Kaiser, während wir die einzelnen Siegerpositionen von „Berlin, Blicke“ studieren, „kann sich erst die Qualität entwickeln“. Und daher hatte für sie beim Fotoprojekt stets die Auswahl einer „hervorragenden Jury“ höchste Priorität, in die sie immer auch Leute aus der Politik berief: „Die hatten danach was gelernt und verteidigten den Preis.“
Dass sich der Preis, dank seiner umsichtigen Betreuung, jederzeit selbst am besten verteidigt, das zeigen nun die Bildstrecken aus zwanzig Jahren. Ob es – um nur einige Preisträger zu nennen – eine klassische Dokumentation ist, wie die Serie von Ute und Bernd Eickemeyer, den ersten Preisträgern 1990, über den Crelle-Kiez; ob es konzeptuelle Streetphotography ist, wie Lothar M. Peters „Eine Sekunde Schöneberg“, die sich aus 15 Aufnahmen mit einer Belichtungszeit von 1/15 Sekunde zusammensetzt; ob es inszenierte Fotografie ist, wie Florian Rexroths „Bäume in der Stadt“, deren Hintergrund Rexroth an ihrem Standort mit weißen Tüchern verhängt hat, um ein singuläres Baumporträt zu schaffen: Sämtliche Positionen überzeugen.
Fotografisch State of the Art, gelingt es ihnen, ein Schöneberger Lebensgefühl zu fassen (als Schönebergin darf ich das sagen) und gleichzeitig darüber hinaus eine städtische Befindlichkeit zu artikulieren, die überall verständlich und damit gültig ist. Jetzt ist das Arbeitsstipendium wieder ausgeschrieben: Wer bis zum 30. November einreicht, hat die Chance, Teil dieses wirklich besonderen, exquisiten Bildarchivs zu werden.
■ Bis 7. August, Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6–7, Di.–So. 10–19 Uhr; Katalog 10 Euro; Unterlagen Foto-Arbeitsstipendium 2011: www.hausamkleistpark-berlin.de
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