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Bücher für immer

LESEN Der Bücherpastor Martin Weskott beherbergt in seiner niedersächsischen Burg so viele gedruckte Bände, dass ihn das E-Book nicht bange macht. Er glaubt an die Sinnlichkeit der Seiten

„Wenn es heute nur noch E-Books gäbe, wüssten die Menschen nichts von Sokrates“

MARTIN WESKOTT

AUS KATLENBURG SIMONE SCHMOLLACK

Er antwortet nicht. Viele Menschen schreiben ihm eine Mail, er liest sie, aber er schreibt nie zurück. Er bekommt auch SMS auf sein Handy. Auf die reagiert er auch nicht. „Ich telefoniere lieber“, sagt Martin Weskott: „Ich suche das persönliche Gespräch.“

Der Satz klingt, als sei der Mann aus der Zeit gefallen. Heute spielt sich fast alles im Netz ab. In achtzig Prozent aller deutschen Haushalte steht ein Computer, zwei Drittel aller Kinder hocken regelmäßig davor, selbst viele Rentner buchen Reisen im Internet. Martin Weskott winkt ab: „Die Technik ist der Ingenieur der Seele.“

So etwas kann nur jemand sagen, der sich auf das Seelenheil der Menschen spezialisiert hat, ein Pfarrer zum Beispiel. Martin Weskott ist seit 1971 Gemeindepastor in Katlenburg, einem Dorf in der Nähe von Göttingen, südliches Niedersachsen. Katlenburg ist aber auch eine hinter hohen Bäumen versteckte Burganlage aus dem 12. Jahrhundert. Es sind dunkle Natur- und Backsteingemäuer, die selbst an heißen Tagen kalte Luft verströmen. Hier steht Pastor Weskotts Kirche. Und hier steht seine Bücherburg.

Martin Weskott versinkt in einem alten, verstaubten Sessel. Er ist 59 Jahre alt und sieht aus, als hätte ihn Gott persönlich geschickt: langer, grauer Bart, kahles Haupt, rauschendes Nackenhaar. Er trägt Baskenmütze, braune Cordhosen und die Brille etwas zu weit vorn auf der Nase. Auf seinen Knien liegt nun ein iPad. Das zeigt eine virtuelle Bibliothek, mit „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, den Geschichten der Wiener Prostituierten Josefine Mutzenbacher und Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Das iPad allerdings gehört dem Pastor nicht, die Autorin dieses Textes hat es mitgebracht – wir wollen über Bücher und deren Zukunft reden.

Obwohl der Literaturmarkt jedes Jahr 97.000 Neuerscheinungen ausspuckt, wird ständig das Ende des Buches vorhergesagt. Insbesondere seit die Technik das E-Book geboren hat, das elektronische Buch.

Martin Weskotts hat 1991 hunderttausende Bücher aus DDR-Verlagen von einer Müllkippe in der Nähe von Leipzig gerettet: Kinderbücher, Belletristik, Lyrik, Fabeln, Sachbücher. Autoren wie Stefan Heym waren darunter, Werner Heiduczek, Walter Petri, Fritz Erpenbeck, Benno Pludra. „Wahrscheinlich eine ganze Jahresproduktion“, sagt Martin Weskott. Er packte seinen Ford Transit voll und fuhr viele Male hin und her.

Sein Blick schweift nach links und dann nach rechts: überall Bücher, in Regalen und in Kisten, auf Paletten und auf Tischen. Selbst von der Decke baumeln sie herab, als Kunstinstallation. Er sagt: „Das hier sind ungefähr 600 Meter Regal, circa 60.000 Bücher.“ In einem anderen Haus auf dem Burggelände lagern noch einmal 500.000 Stück. „Hier sitzen wir gerade in der Kinderbuchecke“, sagt er. Dann deutet seine Hand nach rechts: „Dort stehen Biologie- und Chemiebücher, dahinter gibt es Politik und Geschichte. Links Musik und Theater, da vorn Kochbücher. Am Eingang steht die Belletristik.“ Es scheint, als kennt er hier jedes einzelne Stück. Das iPad sieht in seinen Händen aus wie ein Fremdkörper.

„Ich bin nicht technikfeindlich“, sagt Martin Weskott: „Aber ich pflege einen ökonomischen Umgang mit Technik und Zeit.“ Als die Zeitungen anfingen, über den „Bücherpastor“ zu schreiben und das mit den Büchern immer mehr wurde, weil ihm Leute inzwischen von überallher Bücher bringen, hat er sich eine Website basteln lassen. Aber er schaut selten drauf. Ins Internet geht er nämlich nur, wenn er mal eine Arznei für jemanden aus dem Dorf bestellen muss oder wenn das Papier fürs Büro alle ist.

Dann klickt er schon mal die Seite eines Versandhauses an: „Das spart die dicken Papierkataloge.“ Das war’s dann aber auch, sagt er. Und was ist mit Bahnverbindungen oder der Recherche für seine Predigten? „Ich weiß, wann die Züge in Katlenburg abfahren und wann sie ankommen.“ Briefe schreibt er mit der Hand, auch seine Predigten, und was er dafür wissen muss, holt er sich aus seinen Büchern. Er sagt: „Manchmal nehme ich ein Buch aus dem Regal, schlage eine Seite auf und habe eine Idee.“

Man könnte meinen, dies sei eine Manie. Pastor Weskott sagt: „Das bringt der Beruf mit sich.“ Sein Privatleben nennt der in Fulda geborene und unverheiratete Pfarrer „reduziert“. Er ist Mitglied im Schriftstellerverband PEN Deutschland, für seine Bücheraktion wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Vor ihm steht eine Kiste mit Bildbänden, Kinderbüchern und ein paar antiquarischen Ausgaben. Er zieht die „Tragödie des Cato“ hervor, ein oktavgroßes Heftchen mit Eselsohren und gelben Flecken. Es ist von 1715. „Die Haltbarkeit einer CD“, sagt Martin Weskott, „wird mit 30 bis 35 Jahren angegeben. Wenn es heute nur noch E-Books gäbe, wüssten die Menschen nichts von Sokrates, Aristoteles und Plato.“

Martin Weskott versinkt in einem alten Sessel. Er sieht aus, als hätte ihn Gott persönlich geschickt

Was macht der Pastor mit dem ganzen Zeug? Auf seiner Homepage steht: Bücher weitergeben statt wegwerfen. Viele Menschen klicken die Seite an, danach planen manche eine Reise zur Bücherburg. Die Leute kommen aus Freiburg und Rostock, aus Magdeburg und Tübingen. Auch aus Sarajevo in Bosnien, aus Belgrad in Serbien und aus Tirana in Albanien, aus den USA, aus Finnland und den Niederlanden. Manche rufen vorher an. Dann grummelt Martin Weskott in sein Handy: „Ist schon recht.“

Die Leute hoffen, in Katlenburg Bücher zu finden, die weder moderne Buchläden noch Antiquariate haben. Die es auch in den Bibliotheken nicht gibt und schon gar nicht als E-Book. Vor Jahren hat ein Mathematikstudent seine Diplomarbeit mit Material aus Martin Weskotts Beständen geschrieben, und Juristen haben sich mit Büchern zum DDR-Strafrecht und zum LPG-Recht eingedeckt – für ein bis fünf Euro je Stück.

Martin Weskott kramt in seiner Kiste und holt „Selbstbefragung“ von Hedda Zinner heraus. Die Autobiografie ist 1989 erschienen, wenige Jahre vor dem Tod der Berliner Schriftstellerin. Die Schrift ist eine gnadenlose Abrechnung mit dem Stalinismus. Martin Weskott lässt die Blätter durch seine Finger gleiten. Auf fast jeder Seite hat er etwas notiert. „Krieg“ steht da, oder „Moskauer Zeit“. „Das gibt es nicht als E-Book“, sagt er und wedelt mit dem Buch hin und her. Im Internet werden gerade neun gebrauchte Exemplare angeboten. Oder hier die Bibel, in Leder gebunden, von 1880. „Die kann man doch nicht am Bildschirm lesen.“

Sein Handy klingelt. „Hm. Ja. Gut“, murmelt er und legt auf. Es sind neue Bücher da, der Ford Transit muss ausgeladen werden. Er nimmt einen Schluck aus einer Cola-Flasche und sagt: „Das E-Book setzt sich nicht durch. Bücher wird es immer geben.“ Und was ist mit den Leuten, die aufs E-Book schwören, weil sie jetzt nicht mehr so viele Bücher mit in den Urlaub schleppen müssen? Martin Weskott wehrt ab: „Das war früher ein Problem, als die Bücher groß, dick und schwer waren. Heute gibt es Taschenbücher, die Seiten sind dünner.“ Im Internet kann man sich ab 50 Cent ein E-Book herunterladen. So billig gibt es das im Laden nicht.

„Mit Büchern ist es wie mit Nahrungsmitteln: Schnäppchen führen in die Sackgasse“, sagt Martin Weskott. Und: „Ein gedrucktes Buch hat eine sinnliche und ästhetische Dimension, die Technik nie haben wird.“ Ein Buch müsse man anfassen und man müsse es riechen können. Er sagt: „Lesen ist ein auch ein haptisches Erlebnis.“

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