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Fehlende Zivilcourage

Fünf Menschen, die in einer Tram braunes Liedgut gesungen haben sollen, kommen wohl davon, weil es dort keine Videoaufzeichnung gab – und die Mitfahrer lieber weiter als eingreifen wollten

von Jan Zier

Am Ende wird sich der Fall wohl nicht mehr klären lassen, die Anzeige – gegen Unbekannt – im Sande verlaufen. „Es wird sehr schwer, einen Ermittlungsansatz zu finden“, sagt die Polizei. Und gegen mangelnde Zivilcourage lässt sich ohnehin schlecht ermitteln.

Samstagabend im Viertel, kurz nach dem verlorenen Werder-Heimspiel gegen die Bayern. Die Straßenbahnlinie 10 ist einigermaßen voll. Darunter vier Männer und eine Frau, die „deutlich nationalsozialistische Lieder sangen“, wie Jan Cassalette sagt, der auch daneben stand. Und ihnen gesagt hat, dass sie aufhören sollen. Haben sie aber nicht. „Stattdessen wurde ich angepöbelt und geschubst“, sagt Cassalette. Zuerst von den fünf „zumindest angeheiterten“ SängerInnen. Dann aber auch von den umstehenden MitfahrerInnen. „Nach ein paar Minuten versammelten sich immer mehr Leute um mich herum“, sagt der 28-Jährige Informatik-Student, „und forderten mich auf, die Bahn zu verlassen“. Unsanft, wenn auch ohne körperliche Gewalt: „Sie haben auf mich eingeschrien.“ Auch der zwischenzeitlich aufgetauchte Fahrer habe ihn aufgefordert, die Bahn doch bitte schön weiterfahren zu lassen.

Jan Cassalette hat sich zunächst von dem, wie er sagt, „wütenden Mob“ nicht abschrecken lassen. Per Notruf rief er die Polizei herbei, stellte sich derweil in die Tür der Straßenbahn, um die Ankunft der Beamten abzuwarten. Doch die ließen zunächst auf sich warten. „Schließlich wurde ich mit Gewalt aus der Bahn geschmissen.“ Als die Polizei schließlich eintrifft, ist die Linie 10 schon weiter in Richtung Gröpelingen gefahren.

Da könne man nichts machen, sollen die Polizisten gesagt haben, aber der Bahn hinterherfahren wollten sie auch nicht. Aber selbst Cassalette hat hernach bei der Polizei angegeben, er würde die TäterInnen nicht wiedererkennen. Einen „harmlosen optischen Eindruck“ hätten sie gemacht, sagt er, und „überhaupt nicht verdächtig“ ausgesehen. Keine Glatzen, keine Bomberjacken, keine Springerstiefel. Auch was die fünf gesungen haben, kann er heute nicht mehr detailliert erinnern. Die Anzeige lautet denn auch nicht auf Volksverhetzung, worunter etwa das Absingen des Horst-Wessel-Liedes fiele, sondern auf Körperverletzung.

Zwar gibt es für solche Fälle in aller Regel eine Videoaufzeichnung, sagt die Bremer Straßenbahn AG (BSAG). „Ein automatisch laufendes System“, so BSAG-Sprecher Jens-Christian Meyer, speichere 36 Stunden lang das beständig aufgezeichnete Geschehen in den Bahnen. In dieser Zeit kann auch die Polizei es einsehen, bei konkretem Bedarf. Allein: Das fragliche Fahrzeug indes, sagt Polizei-Sprecher Dirk Siemering, verfügte noch gar nicht über so eine Videoüberwachung. Die Akte ist zwar noch nicht zugeklappt. Doch Hoffnung mag die Polizei wenig machen.

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