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Greifvögel und Bordsteinschwalben

Kein Geld, keinen Job und häufig keine andere Wahl: Für ein paar Euro verkaufen junge Männer ihre Körper

Männliche Prostituierte

Offizielle Statistiken fehlen. Zählt man zusammen, was Streetworker in den Großstädten beobachten, kommt man auf bundesweit über 6.000 männliche Prostituierte. Manche verabreden sich per Internet und führen ein relativ geregeltes Leben, andere enden auf dem Strich.

Studien zeigen: Fast 40 Prozent der Stricher haben eine Heimkarriere hinter sich und keinen festen Wohnsitz. Etwa jeder zweite steht ohne Schulabschluss da, Drogen und Beschaffungskriminalität sind die Regel. Experten schätzen, dass jeder vierte, vielleicht sogar jeder zweite Straßenjunge mit HIV infiziert ist. Jeder fünfte ist heterosexuell und fühlt sich nicht zu Männern hingezogen.

Zuhälterstrukturen sind die Ausnahme, trotzdem stammen immer mehr Prostituierte aus Osteuropa. Vor zehn Jahren waren es 40 Prozent, heute gehen Streetworker davon aus, dass noch mehr Ausländer, vor allem Roma aus Rumänien und Bulgarien, für wenig Geld in Deutschland anschaffen gehen.

AUS ESSEN JOHANNES PENNEKAMP

Wie Greifvögel, die ihre Opfer sorgsam ausspähen, kreisen die Fahrzeuge um den fußballfeldgroßen Parkplatz. Ihre Scheinwerfer sorgen hier, im Schatten der Essener Stadtautobahn A 40, für ein flackerndes, unruhiges Licht – in dem die Beute schemenhaft auszumachen ist: der junge Mann mit Perücke und knielangem Kleid, der auf dem Bordstein auf und ab trippelt und den hier alle nur „die Transe“ nennen. Der blondierte Jugendliche, dessen hageres Gesicht hinter einem der Betonpfeiler hervorlugt. Und Timo*, dessen Silhouette sich hinter der Scheibe eines weinroten Ford-Transits abzeichnet. Heute, an diesem sommerlichen Abend, werden die Greifvögel besonders leichtes Spiel haben: Denn der Monat hat nur noch drei Tage, und die meisten Stricher haben ihr Hartz IV längst verprasst. Sie brauchen Geld.

Abend für Abend verwandelt sich der „Wackel“, dieser düstere Parkplatz im Herzen Essens, zum Revier älterer Männer auf der Jagd nach schnellem, billigem Sex. Sie holen ihn sich bei Strichern, die für ein paar Euro ihre Körper verkaufen. Bei Jungs wie Timo, der ihnen für 20 Euro „einen bläst oder wichst“ und der keine Ahnung hat, ob er sich nicht schon längst mit HIV infiziert hat – so wie etwa jeder Dritte, der hier auf seine nächste „Tour“ wartet.

Anders als weibliche Prostituierte kommen Stricher in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vor. Dabei schätzen Sozialarbeiter der Essener Facheinrichtung Nachtfalke e. V., dass allein in der Ruhrmetropole 300 bis 400 junge Männer ihr Geld mit schwulem Sex verdienen: Auf dem Straßenstrich landen die Verzweifelten, Bordsteinschwalben, die nicht mehr tiefer fallen können.

Timo, fleckiger Kapuzenpulli, schwarze Kappe, beugt sich über eines der bereitliegenden Baguettebrötchen und schlingt es in sich hinein. Er hatte heute noch keine richtige Mahlzeit, der Hunger treibt ihn in den Beratungsbus der Nachtfalke-Streetworker. Frank, ein Sozialarbeiter, füllt ihm eine Terrine auf, der Innenraum füllt sich mit feuchtem, fleischigem Gulaschdampf. „Was hast du heute so gemacht?“, fragt Frank. Mittags habe er ein paar Sozialstunden abgearbeitet und sich danach eine seiner gebrannten DVDs reingezogen, berichtet Timo zögerlich. Der Stricher guckt sich jeden Tag die Billigstreifen an, sonst hat er nichts zu tun. Auch nachts, wenn er vom Wackel nach Hause kommt, beruhigt er sich mit den Filmen. Den Tabletten, die er früher gegen seine Schlafstörungen eingeworfen hat, will er abgeschworen haben. „Ich bin jetzt clean“, sagt Timo.

Keine Moralpredigten

Streetworker Frank verzieht keine Miene. Er weiß, dass er auf solche Sätze nicht viel geben kann – und lässt sie kommentarlos im Raum stehen. Bei seiner Nachtschicht geht es ihm nicht darum, Moralpredigten zu halten. Der Streetworker ist zufrieden, wenn die „Jungs“ an die Kondome denken, die er ihnen in die Hand drückt, und tagsüber zur Nachtfalke-Beratung kommen. Und immerhin, das macht Timo seit ein paar Wochen. Die Sozialarbeiter wollen ihn jetzt erst einmal stabilisieren. Nach ein paar Beratungstreffen hat Timo angefangen, von seiner verkorksten Jugend zu erzählen. Davon, dass er es mit dem neuen Freund seiner Mutter nicht ausgehalten hat, abgehauen und schließlich im Heim gelandet ist. Dort probierte er Drogen. Er häufte Schulden an – und dann bekam er irgendwann den Tipp eines Freundes: „Auf dem Strich kannst du dir leicht was dazuverdienen.“

Timo hat seine Terrine ausgelöffelt. Als er die Ärmel seines Pullovers bis zum Ellenbogen hochschiebt, kommen rote, parallel gezogene Kratzer zum Vorschein, die seine Unterarme übersäen. „Mein Katze“, sagt er nur zu den Wunden – der Sozialarbeiter deutet sie als Hinweis auf eine Borderline-Störung.

In kurzen Intervallen erhellen die Scheinwerfer der Autos den Innenraum des Bullis, die Greifvögel lauern, und Timo rutscht unruhig auf der Rückbank hin und her, starrt in kurzen Abständen durch die Scheibe nach draußen. Dann fummelt er sich eine knittrige Zigarette aus der Gesäßtasche, steht auf und verschwindet im Halbdunkel.

Timo ist mit Anfang dreißig verhältnismäßig alt für einen Stricher, bald werden ihm die Freier die kalte Schulter zeigen. Bald muss er andere Wege finden, um Geld zu verdienen – doch der Absprung vom Strich ist schwierig.

Der junge Mann mit den gelb verfärbten Zähnen und dem ausgeblichenen Pullover, der in der Zeitung gern Fabian heißen möchte, ist einer der wenigen, der es geschafft hat. Der 26-Jährige ist an diesem Vormittag in die Nachtfalke-Anlaufstelle gekommen. Männer aus der Szene bekommen hier kostenlose Beratungsgespräche, günstige Mahlzeiten, sie können fernsehen, duschen und ihre Klamotten waschen. Fabian kennt sich hier aus: Vier Jahre ist er anschaffen gegangen, erst auf dem Straßenstrich, später hatte er dann ein Profil auf einer Internetplattform und hat die Freier zu Hause besucht.

Sex mit hundert Männern

„Ich habe mit mindestens hundert verschiedenen Männern Sex gehabt“, sagt Fabian, „mit Lehrern, Touristen, reichen und armen Leuten, eigentlich kamen die aus allen Gesellschaftsschichten.“ Viele wollten es ohne Gummi machen, „aber das habe ich immer abgelehnt“, sagt er. Manchmal waren die Kunden auf eine schnelle Nummer im Auto aus, manchmal bezahlten sie ihn für eine ganze Nacht. „Für Geschlechtsverkehr habe ich 50 Euro genommen, für die ganze Nacht 90 bis 100“, erinnert Fabian sich. Es schwingt fast etwas Stolz mit, wenn er über seine Vergangenheit spricht: „Ich hab mich schon begehrt gefühlt“, sagt er und dreht an seinen breiten silbernen Ringen. Nach einem Moment des Schweigens verzieht er sein Gesicht: „Aber ich habe mich auch geekelt, ich musste mich jedes Mal neu überwinden.“

Im Gegensatz zu den meisten anderen Strichern hatte Fabian mal ein „gutbürgerliches Leben“, wie er es selbst nennt. Er hat eine abgeschlossene Ausbildung, arbeitete als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Doch seine heile Welt brach zusammen, als er erst seinen Job und kurz darauf seine Freundin verlor, die ihn aus der Wohnung schmiss. Rasch ging ihm das Geld aus, und als er eines Abends in einer Bar auf einen älteren Mann stieß, der ihm einen 20-Euro-Schein für Sex anbot, war es so weit. „Ich habe gar nicht groß darüber nachgedacht, das war schnell verdientes Geld“, erinnert sich der Aussteiger. Aus Mangel an Alternativen trieb sich Fabian, der sich als bisexuell bezeichnet, bald regelmäßig auf dem Wackel rum, stieg zu älteren Männern ins Auto, befriedigte sie. Durch die Nachtschichten verschob sich sein Schlafrhythmus so, dass er kaum noch Tageslicht zu sehen bekam. Seine Einnahmen verpulverte er für Speed und Amphetamine, die ihn nachts wachhielten und betäubten zugleich. Drogen, Schulden, Sex – ein Teufelskreis.

Der Streetworker ist zufrieden, wenn die „Jungs“ an die Kondome denken

Erst als Fabian sich neu verliebte, wurde das Anschaffen zum No-Go. Eine Nachtfalke-Beraterin begleitet ihn jetzt bei Behördengängen, verwaltet sein Konto, hilft ihm, einen Job zu finden. „Ich will wieder in mein gutbürgerliches Leben zurück“, sagt der Exstricher.

Kaffee auch für Freier

Auf dem Stricherparkplatz ist es spät geworden. Zwei Männer jenseits der 60 hieven sich aus einem silbernen Mittelklassewagen und wackeln auf den Beratungsbulli zu. Wie ihr Autokennzeichen verrät, sind sie für ihr nächtliches Vergnügen aus Duisburg angereist. Arnold* trägt einen abgewetzten, dunklen Dreiteiler, an einer Leine trottet „Biene“, ein Dackel mit glattem, braunem Fell hinter ihm her. Dieter* hat einen Knopf im Ohr, hört Radionachrichten und wirkt abwesend. Streetworker Frank spendiert ihnen Kaffee, „weil es wichtig ist, auch mit den Freiern zu reden“. Sie kennen sich in der Szene aus, können helfen, wenn Jungs länger nicht in der Beratung aufgetaucht sind.

Für das Freierduo ist der nächtliche Ausflug ein hübscher Zeitvertreib: Arnold redet übers Wetter, Dieter plaudert von alten Zeiten auf dem Amt, von Frau und Tochter. Doch sobald die Becher leer getrunken sind, ist Schluss mit dem harmlosen Gerede. Die Freier ziehen ab, um in ihren Autos Stellung zu beziehen und lauernd um den Parkplatz zu kreisen.

Als Streetworker Frank kurz vor Mitternacht die übriggebliebenen Lebensmittel im Kofferraum verstaut, taucht Timo wieder auf. „Ich mache heute keine Tour“, sagt er frustriert. Die beiden Duisburger hätten ihm mickrige 15 Euro angeboten. Dafür hätte er sie die ganze Nacht nach Hause begleiten sollen. „Die sind geizig, dabei haben die Kohle“, schimpft Timo. Ein Angebot abzulehnen, seinen Körper nicht für jeden Preis zu verkaufen, das kann er sich selten leisten. „Zum Glück gibt’s morgen endlich wieder Geld vom Amt“, sagt Timo. Gleich am Vormittag will er sein Hartz IV abheben, sich eine große Packung Tabak und ein paar neue DVDs besorgen. Es ist absehbar, dass sein Geld nach ein paar Tagen aufgebraucht sein wird. Dann wird Timo wieder auf dem Wackel stehen, die kreisenden Autos beobachten – und es sich nicht leisten können, Nein zu sagen, wenn einer der Greifvögel es auf ihn abgesehen hat.

* Namen geändert

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