: Im Land der ungebutterten Backbleche
REDUKTION Die Shows „V Delicious“ sowie „Allergy & Free From“ geben der Internationalen Grünen Woche 2015 einen neuen Dreh
VON ANSGAR WARNER
Grünfutter gab’s auf der Grünen Woche bisher vor allem für das liebe Vieh – doch das „Davos des Agribusiness“ ist nicht völlig trendresistent: Nach „Bio“ wird in den Messehallen rund um den Berliner Funkturm nun „Vegetarisch“, „Vegan“ und „Allergiefrei“ als Aushängeschild genutzt. Denn direkt neben friedlich grasenden Rassekaninchen, Auerochsen und Boeuf de Hohenlohe öffnen in Halle 26 vom 23. bis 25. Januar nämlich zwei Spezialmessen ihre Pforten.
Die „V Delicious Show“ präsentiert ein „kulinarisches Wunderland“ für Menschen, die den „Verbrauch von tierischen Produkten vermindern möchten“, sei es nun, dass sie Tofuwürstchen grillen oder eher indirekt durch veganes Reisen oder indem sie Schuhe aus Kunstleder tragen. Die Allergy & Free From Show bietet eine „Erlebniswelt“ mit Produkten ohne Gluten, Milch und Erdnussspuren oder problematische Chemikalien, von der Reiswaffel bis zum Haarshampoo.
„Show“ ist dabei wörtlich zu nehmen. Nach dem bereits in London und Liverpool erprobten Erfolgsrezept wird auch eine Menge vorgezeigt – inklusive Kochvorführungen mit Promi-Köchen und einem breit gefächerten Seminarprogramm, das Unterstützer wie der Vegetarierbund oder der Allergie- und Asthmabund bestreiten: „Gerade zum Thema Allergien gab es eine solche Anlaufstelle, die spezielle Produkte zusammen mit dem Know-how von Experten präsentiert, in dieser Form in Deutschland noch nicht“, so Kirsten Whitehouse, Event Managerin bei der Agentur f2f events, die das Konzept aus Großbritannien importiert hat. Zu den Ausstellern aus dem Handelsbereich gehören große Namen wie die Vereinigung Deutscher Reformhäuser, Keimling Naturkost oder Hammermühle, aber auch viele kleinere Anbieter. Präsenz zeigt zudem der Pharmakonzern Kyberg Vital, denn Medikamente, beispielsweise gegen die Unverträglichkeit von Laktose oder Histamin, sind ein wachsender Markt. Und wie viel „Free From“ steckt im großen „V“ von „V Delicious“? „Die meisten allergiefreien Lebensmittel hier sind auch vegetarisch und vegan“, erklärt Whitehouse. „Außerdem ernährt sich jeder zweite Allergiker auch fleischfrei.“
Stärker noch als die Vegetarier sind Allergiker eine Massenbewegung mit Marktpotenzial: „Jeder dritte Deutsche leidet unter Allergien. Wenn die Grüne Woche 400.000 Besucher hat, sind eben auch mehr als 100.000 Allergiker unter ihnen“, rechnet Whitehouse vor. Das Interesse der Grünen-Woche-Macher, sich an dieses Thema anzudocken, hat also auch mit wirtschaftlichen Entwicklungen zu tun. Allein das Wachstum bei glutenfreien Produkten verläuft zweistellig, das Marktvolumen hat hierzulande eine Viertelmilliarde Euro erreicht.
Trotzdem hat Deutschland Nachholbedarf. Viele allergiefreie wie auch vegetarische oder vegane Produkte kommen bisher aus dem Ausland, etwa aus dem Vereinigten Königreich: „Bei der Produktentwicklung sind die Briten den Deutschen fünf bis zehn Jahre voraus“, schätzt Whitehouse. So dürfen Messebesucher etwa auf das glutenfreie Brot des Edinburger Start-ups „Genius“ gespannt sein, oder auf die Nespresso-ähnliche Kapselbrotmaschine „Easybread“ mit „Gluten free“-Backmischung, in diesem Fall made in Kanada.
Ein weiterer Trend, dem die Grüne Woche sich nun öffnet, ist der komplette Verzicht auf Fleisch oder sogar alles Tierische aus ethischen Gründen. Stephanie Stragies wundert das nicht: „Das ist sicherlich eine Reaktion auf den Vorwurf, die Messe würde nicht mehr mit der Zeit gehen“, so die Pressesprecherin des Vegetarierbundes Vebu, der mit eigenem Stand auf der „V Delicious“ Flagge zeigt. Schon 10 Prozent der Bundesbürger ernähren sich vegetarisch, immerhin knapp 1 Million vegan – dazu kommen „Flexitarier“, die fleischfreie Tage bei ihrer Ernährung einlegen. Wie stark sich Verbraucherinteressen ändern, zeigt die jährlich zu Beginn der Grünen Woche in Berlin stattfindende Großdemo unter dem Motto „Wir haben es satt“ – sie richtet sich unter anderem gegen Massentierhaltung, Hormoneinsatz und Fleischmafia. Die lautstark vorgetragene Forderung nach der Agrarwende unterstützt auch Stragies’ Organisation: „Der Vebu wird auf der Demo präsent sein.“
Sehr groß ist der gedankliche Spagat zwischen Demo-Teilnahme und Messepräsenz nicht mehr – die ganze Branche sei im Wandel, so Stragies: „Selbst ein traditioneller Wursthersteller wie die Rügenwalder Mühle experimentiert bereits mit veganem Fleischersatz.“ Das wachsende Angebot an schmackhaftem „Mock Meat“ oder Milch- und Käsesurrogaten, die man auf der „V Delicious“ probieren kann, beschleunigt umgekehrt auch den Sinneswandel der Kunden: „Es war noch nie so einfach, sich vegan zu ernähren“, so Stragies. Die Zahl der Veganer wachse mittlerweile sogar stärker als die der Vegetarier.
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