DIE GESELLSCHAFTSKRITIK: Das Ende der Domestizierung
WAS SAGT UNS DAS? Das Düsseldorfer Amtsgericht erlaubt Mietern das Stehpinkeln. Offensichtlich gelten die ungeschriebenen Gesetze der linksliberalen Milieus gar nicht mehr
Pinkeln im Stehen erlaubt! Dieses historische Urteil des Düsseldorfer Amtsgerichts ist eine Nachricht, die alle Männer ins Mark trifft, die in linksliberalen westdeutschen WG-Küchen des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgewachsen sind. Denn wenn wir in diesen seligen, gemütlichen D-Mark-Zeiten mit unbegrenzten Studiensemestern und übersichtlichen Weltproblemen gar nichts gelernt haben, wenn wir nichts begriffen und deshalb nix zum Fortschritt beigetragen haben – eines hatten wir alle gelernt, begriffen und (meist) auch in die Tat umgesetzt: Wir haben uns hingesetzt. Denn eines stand fest: Pinkeln im Stehen geht gar nicht.
Und jetzt? Gilt das alles nicht mehr. Gibt dieses Gericht doch tatsächlich einem pinkelnden Mieter gegen seinen pingeligen Vermieter Recht, der 1.900 Euro Kaution einbehalten wollte. Und stellt damit unsere Welt auf den Kopf. Der Vermieter, so entschied das Gericht, müsse hinnehmen, dass der Marmorboden im Bad durch die Pisse beschädigt wurde. Konnte der Mieter ja nicht ahnen, hätte man ihm vorher sagen müssen, dass er das nicht darf. Ja, wo leben wir denn?! Offensichtlich in einer Welt, in der die ungeschriebenen Gesetze der linksliberalen Milieus gar nicht mehr gelten.
Kann man alles vergessen, was wir gelernt, begriffen und manchmal sogar aktiv gemacht haben. Die Friedensbewegung? Galt als brave, eher langweilige, aber insgesamt jedenfalls gute Sache. Und heute? Rechts unterwandert, indiskutabel! Das sporadische Engagement in der Antiatomkraftbewegung? Sicher weiter löblich, hat aber als wichtigster Lebenszweck und Daseinsberechtigung seit dem Ausstieg ausgedient. Der Glaube an linke Regierungen, die linke Politik machen? Äh, Schröder.
Blieb das Sitzpinkeln. Das einzig nachhaltige Ergebnis aller WG-Diskussionen. Mit der Einhaltung dieser Regel konnte man wenigstens jeden Tag beweisen, dass man die Frauen zwar immer noch nicht verstanden, aber als gleichberechtigte Wesen mit berechtigten Anliegen akzeptiert. Und so jeden Tag ein paar Tropfen zum Fortschritt beitragen. Dass niemand mehr eklige Spritzer aufwischen muss, ist ja zweifellos ein Fortschritt. Der einzige, der UNS zu verdanken ist.
Aber wie heißt es jetzt in der Urteilsbegründung zum Stehpinkeln: „Trotz der in diesem Zusammenhang zunehmenden Domestizierung des Mannes ist das Urinieren im Stehen durchaus noch weit verbreitet.“ War also alles umsonst? Nein, man muss das Urteil anders verstehen. Erstens: Auch Richter haben Humor. Das ist ein Fortschritt. Zweitens: Sitzpinkeln bleibt Sisyphosarbeit – und was sonst gäbe dem linksliberalen Leben Sinn und Glück. LUKAS WALLRAFF
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen