piwik no script img

Das Nizza von Israel

Nach den Anschlägen in Paris hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die französischen Juden aufgefordert heimzukehren. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn sie kommen von allein

AUS TEL AVIV KERSTEN AUGUSTIN UND ANNE FROMM

Als Sophie Taïeb die Tür geschlossen hatte, wusste sie, dass es Zeit war, zu gehen. Davor hatten ein paar Kerle an der Tür ihrer Pariser Wohnung geklopft. Als Taïeb öffnete, riefen sie ihr zu: „Morgen schicken wir dich ins Gas.“

Taïeb hatte für jüdische Blogs geschrieben. Nichts Politisches, nur Beiträge über das beste Hummus der Stadt oder jüdischen Pop. Doch auf ihre Artikel folgten zunächst Kommentare voller Hass, dann kam der Besuch an ihrer Wohnungstür. Taïeb ging zur Polizei. Nachdem sie lang gewartet hatte und endlich ihre Anzeige aufgeben konnte, sagte ihr der Polizist: „Die machen doch nur Spaß.“ Taïeb war nicht zum Lachen, sie hatte Angst. Also packte sie ihre Sachen und zog nach Israel – „am 23. September 2013. Ein Datum, das man nie vergisst“, sagt sie.

16 Monate nach ihrem Umzug steht Taïeb auf einem Platz im Zentrum von Tel Aviv. Knapp vierhundert Menschen haben sich versammelt, um der Opfer der Anschläge in Paris zu gedenken. Taïeb ist eine der Organisatorinnen der Mahnwachen. Wie überall auf der Welt sieht man auch hier Schilder der Solidarität, weiß auf schwarz: Je suis Charlie. In Tel Aviv haben sie etwas angefügt, um besonders der Toten im jüdischen Supermarkt zu gedenken. Hier heißt es: „Je suis Charlie – casher aussi“, „Ich bin Charlie – und koscher“.

Für die Demonstranten war es nicht nur ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit, sondern auch ein Anschlag auf die Juden. Seit zwei Jahren sind französische Juden die größte Einwanderergruppe in Israel. 2014 sind 6.600 französische Juden gekommen – fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Jetzt, nach den Anschlägen in Paris, bei denen vier jüdische Kunden in einem Supermarkt ermordet wurden, wird ein weiterer Rekord erwartet.

Croissants und Schlager

Am Morgen nach der Kundgebung läuft Hanna Ben-Moussa durch die Innenstadt von Nahariya, eine Stunde nördlich von Tel Aviv. Sie hat lange schwarze Haare, eine große Sonnenbrille verdeckt ihre Augen. Sie kommt vorbei an einer französischen Patisserie, aus der es nach Croissants riecht, an einem Schaufenster mit Anzeigen der „Agence Immobilière“, die Wohnungen an Franzosen vermietet, und an einem Falafelimbiss, der „Chez Claude“ heißt.

Auf dem Kikar Haatsmaut, dem zentralen Platz von Netanja, dröhnen französische Schlager aus den Boxen. Das Meer ist nur ein paar Stufen entfernt. Hier, wo Netanja wie Nizza ist, trifft Ben-Moussa zwei Freundinnen aus Frankreich. Die drei Frauen hatten ihre Kinder auf derselben jüdischen Schule in Paris. Nach und nach sind sie alle nach Israel ausgewandert.

Ben-Moussa kam mit ihrem Mann und ihrem Sohn vor fünf Monaten – aus Angst um ihr Kind: „Mein Sohn ist fünf, in Paris hab ich ihn nicht allein rausgelassen“, erzählt sie. Ihre Stimme ist rau, sie spricht laut und fuchtelt wild mit den Händen. Der Antisemitismus macht sie rasend. „Hier lass ich meinen Sohn machen, was er will, selbst mit Kippa – das wäre undenkbar in Paris. Ich habe nicht eine Sekunde lang Angst.“ Die 37-Jährige und ihre Freundinnen fühlen sich wohl in ihrer französischen Exklave in Israel. Sie will nicht zurück, Frankreich fehlt ihr nicht, obwohl sie noch keinen Job hat, kaum Israelis kennt und kein Hebräisch spricht.

Einer, der dafür sorgen soll, dass sich Leute wie Ben-Moussa in Israel schnell zu Hause fühlen, ist Avi Meyer. Er arbeitet bei der Jewish Agency in Jerusalem, Israels offizieller Einwanderungsbehörde. Avi Meyer hat es eilig, jeden Tag rufen jetzt Medien an, draußen wartet ein Fernsehteam von CNN. Jahrelang hat sich niemand für die Einwanderung der Franzosen interessiert. Doch die Anschläge in Paris änderten das.

Meyer hastet in sein Büro, um zu erklären, was jetzt passiert mit all den Franzosen, die nach Israel kommen werden. Die Wand über seinem Schreibtisch ist leer, ein Bilderrahmen mit einer Karte Russlands wurde hastig abgehängt und steht auf dem Boden. Lange waren Juden aus der ehemaligen Sowjetunion die größte Gruppe der nach Israel Einwandernde. Etwa eine Millionen russischstämmige Juden leben heute in Israel, das ist etwa jeder achte Einwohner. Bald könnte über dem Schreibtisch von Meyer eine Karte von Frankreich hängen. Israel bezahlt allen Juden, die einwandern wollen, das Flugticket, hilft bei Job- und Wohnungssuche und finanziert im ersten Jahr Versicherungen und Unterhalt. Die französischen Einwohner sind besonders begehrt: Die meisten sind gut ausgebildet, deutlich besser als die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Und sie kommen jung. Erst im Herbst hat die Regierung deshalb ein Gesetz beschlossen, das die Anerkennung französischer Abschlüsse erleichtern soll.

Glaubt man einer Studie, die für die Europäische Union durchgeführt wurde, denken 50 Prozent der französischen Juden über Auswanderung nach. Manche befürchten bereits einen jüdischen Exodus in Frankreich. Deshalb stehen Avi Meyer und die Jewish Agency in der Kritik. Einerseits sind sie die Einwanderungsorganisation Israels und damit auch die PR-Agentur für den zionistischen Traum. Andererseits befürchten viele jüdische Gemeinden in Frankreich, dass die Auswanderung sie noch stärker marginalisieren wird.

Meyer betont deshalb mehrmals, wie viel die Jewish Agency für Juden in der Diaspora tue. Man habe sogar einen Fonds aufgelegt, um die französischen Gemeinden besonders zu schützen: „Wir wollen, dass Juden nach Israel kommen, weil sie es wollen – und nicht, weil sie Angst haben.“

Zurück in Tel Aviv, streckt sich Sarah Hassau auf ihrer Couch aus. Sie ist 19 und lebt seit eineinhalb Jahren in Israel, in einer schicken Neubauwohnung, zusammen mit ihrem Bruder. Ihre Eltern haben die Wohnung gekauft, in ein paar Jahren wollen sie nachkommen. In Marseille, wo Hassau herkommt, hat sie sich unsicher gefühlt: Pöbeleien in der U-Bahn, eine Beleidigung in der Schule, die Tasche geklaut. „Alles nichts Großes“, sagt sie, „aber genug, um mir Angst zu machen.“ Hassau hatte einen langen Tag auf der Militärbasis. Trifft man die 19-Jährige nach Feierabend, in weiter Jogginghose und buntem T-Shirt, kann man sich kaum vorstellen, dass sie tagsüber Soldatin ist. Sie hat sich freiwillig verpflichtet und arbeitet auf einem Militärflughafen südlich von Tel Aviv. Nur wenige Kilometer sind es von dort zum Gazastreifen. Es ist ein Schreibtischjob, und doch sagt Hassau stolz: „Ich will mein Land verteidigen.“

Es klingt absurd: Eine 19-Jährige, die sich in Marseille unsicher fühlt, zieht als Soldatin in den Nahen Osten. Gerade dorthin, wo noch vor wenigen Monaten ein Krieg über 2.000 Menschenleben forderte. In Tel Aviv, ihrer neuen Heimatstadt, schickte sie der Raketenalarm täglich in den Bunker. Erst im Herbst wurden bei einer Serie von Anschlägen in Jerusalem 13 Menschen getötet. Vergangenen Mittwoch stach ein Attentäter in einem Bus in Tel Aviv wahllos mit einem Messer auf Passagiere ein. Und dennoch fühlt sich Sarah hier sicherer als in Marseille.

Eine, die diesen Widerspruch zu erklären versucht, ist Esther Schely-Newman. Sie forscht seit 15 Jahren an der Hebräischen Universität in Jerusalem über die Einwanderung französischer Juden. Dafür befragt sie französische Juden vor und nach der Auswanderung nach ihren Gründen und ihrem neuen Leben in Israel. Die Professorin sitzt weit vorn auf ihrem Schreibtischstuhl. Statt zu antworten, stellt sie lieber selbst Fragen: „Kann allein der Antisemitismus die französische Einwanderung erklären? Ich glaube, nicht.“

Getrennte Familien

Ein anderer Grund für die Auswanderung sei der unter Frankreichs Juden besonders stark ausgeprägte Zionismus. „Für viele von ihnen war Frankreich nur eine Station auf ihrem Weg“, erzählt die Professorin aus ihren Studien. Schely-Newman und andere Wissenschaftler sehen einen weiteren Grund in der Migrationsgeschichte der französischen Juden: Die meisten von ihnen sind selbst Einwanderer aus Nordafrika. Als Juden in den fünfziger Jahren Marokko, Tunesien und Algerien verließen, ging etwa die Hälfte von ihnen nach Frankreich, die andere in den neu gegründeten Staat Israel. Häufig wurden damals auch Familien getrennt. „In meinen Befragungen geben viele an, aus familiären Gründen nach Israel zu gehen“, sagt Schely-Newman.

Auch Sophie Taïeb, die Bloggerin aus Paris, hatte bereits Familie in Israel. Die ersten Monate kam sie bei ihrem Cousin in Jerusalem unter. Das hat ihr den Start in dem neuen Land erleichtert. Trotzdem sei die erste Zeit schwierig gewesen. „Das Leben in Israel ist teuer und kompliziert“, erzählt sie, „auch im Vergleich mit Paris.“ Weil sie nicht Hebräisch lesen konnte, habe sie zudem Probleme mit den alltäglichsten Dingen gehabt: Wochenlang kaufte Taïeb immer wieder Duschgel statt Waschmittel.

Heute, fast anderthalb Jahre nach ihrer Ankunft, findet sie das Leben in Israel immer noch viel schwieriger, als sie es sich in Paris vorgestellt hatte. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit in Israel deutlich schlimmer als in Frankreich, und die Gehälter sind niedriger. Taïeb hat einen Job gefunden, aber der sei schlecht bezahlt. Sie betreut in einem Hotel französische Reisegruppen. Eine Arbeit, für die sie fließend Hebräisch sprechen muss, kann sie noch nicht annehmen.

Taïeb glaubt, dass viele Juden die Auswanderung nach Israel romantisieren: „Man sollte sich das gut überlegen.“ Trotz der Probleme ist für Taïeb ihr Leben in Frankreich abgeschlossen, an eine Rückkehr denkt sie nicht. Nur den guten Käse vermisst sie – dafür trifft sie sich einmal im Monat mit französischen Freunden. Dann gibt es Saint Nectaire und Comté und einen guten Beaujolais. Frankreich sei für sie wie ein Exfreund: „Wir haben uns getrennt, wir bleiben in Kontakt, aber die Geschichte ist vorbei.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen