piwik no script img

Das Nutztier im Sozialismus

DDR Eine Tagung an der TU beschäftigt sich mit “Auswirkungen der SED-Ideologie auf gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse“ – dabei ist aber die verheerende Industrialisierung der Landwirtschaft in Ost wie West Thema

„Tiere unter der SED-Diktatur“ – so könnte man, verkürzt, eine Tagung nennen, die am Freitag in der TU stattfand. Da haben sie wieder eine neue Opfergruppe in der DDR entdeckt, höhnte die junge welt. Und hatte nicht einmal Unrecht, allerdings erforschen die Veranstalter – der interdisziplinäre „Arbeitskreis für Human-Animal-Studies ‚Chimaira‘“ – ausschließlich die Opfergruppe Tiere, denen sie nun eben auch in dem Forschungsgebiet DDR nachgehen.

Kälber „produzieren“

Warum nicht gleich „Die Tiere im Sozialismus“, dachte ich. Für die Fortschrittler Marx, Engels, Lenin et altera waren die Nutztiere allesamt nur Mittel zum sozialistischen Zweck. Dementsprechend „effektiv“ musste man mit diesem Lebensmittel umgehen. Und so war es auch. In Hochzeiten gab es Großviehanlagen, die 200.000 Schweine hatten, oder solche mit 40.000 Rindern und Milchviehbetriebe mit 2.000 Kühen (diese gehören heute übrigens einem Westler, der sie auf 2.600 Kühe erweiterte).

Der vielbeschäftigte Tierarzt einer LPG bei Potsdam musste statt von geborenen von „produzierten“ Kälbern sprechen, und von jedem Behandlungsnachweis eine Kopie an das Ministerium für Staatssicherheit schicken. Er vertrat nach der Wende die These, dass die Stasi sich als oberste Tierschützer besonders viele Gedanken über das Wohl und Wehe der Tiere in der DDR gemacht hätten. Wenn auch nicht aus Tierliebe.

Die Tierliebe gab es im Sozialismus quasi erst nach Feierabend, sei es in der kleinen privaten Landwirtschaft, die man ihnen als „Genossenschaftsbauern“ gelassen hatte, sei es als Aquarianer oder Hobbyornithologe im Verein. Letztere, so erfuhr ich in einem der (filmisch unterstützten) Referate, hatten sich nach Vogelarten aufgeteilt, einer kümmerte sich zum Beispiel um die Großtrappen. Er erzählte: Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft ab den Siebzigern und dem vermehrten Einsatz von giftigen Chemikalien auf den Feldern sei die Großtrappenpopulation ständig zurückgegangen. Einige wurden republikflüchtig, drei flogen im Winter nach Frankreich und blieben dort. Der letzte im Großraum Leipzig starb 1994.

In allen Vorträgen, Filmen und Diskussionen ging es um „das reale Tier“ (das nur allzu oft von der Statistik verdeckt wird). Oder noch schlimmer – wie es der heutige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft auf einem Plakat verspricht, das man an die Wand des Tagungsraumes projizierte: „Den Tieren muss es am Ende der Legislaturperiode besser gehen als heute.“

Zwei Referentinnen führten aus, dass sich die Landwirtschaft mit der Industrialisierung ab den Achtzigern von den jahrhundertelang nachhaltig praktizierten Wirtschaftsweisen gelöst habe. Dies geschah auch im Westen. Was dort marktwirtschaftlich („Wachsen oder Weichen“) geregelt wurde und wird, geschah im Osten von oben, angefangen mit der Bodenreform und der anschließenden Kollektivierung. Letztere bewirkte bei den Tieren: chronischen Futtermangel (als Ersatz wurden unter anderem Brauereiabfälle verfüttert, was jedoch mitunter bei den Rindern zur Alkoholabhängigkeit führte), schlechte Unterbringung, Seuchenausbrüche, Vernachlässigung (man kümmerte sich lieber ums Privatvieh). Die Folgen waren Versorgungskrisen – denen man mit der Industrialisierung beikommen wollte. Dabei stand man wie bei der Bildung immer größerer Industriekombinate im Wettbewerb mit der BRD.

Zudem ging es der Partei um eine Angleichung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land. Das „bäuerliche Bewusstsein“ wurde dabei zuerst bekämpft, als es dann jedoch allzu akkordarbeiterlich gedieh, auf Kosten der Tiere und Äcker, versuchte man gegenzusteuern.

Gestörtes Mensch-Tier-Verhältnis

Auch wollte man die unselige Trennung der „Tier-“ und „Pflanzenproduktion“ rückgängig machen, dann aber kam die Wende. Der sozialistische Fortschritt („Kombinat Fortschritt Landmaschinen“ hieß ab den Sechzigern auch der größte Landtechnikhersteller) zeigte sich in den LPGs zum Beispiel in Form von Betonspaltenböden, Fütterungstechnik und Karussellmelkstände, was gleichzeitig eine zunehmende Arbeitsteilung hervorrief. Das dabei immer mehr gestörte Verhältnis zum Tier ist jedoch nicht DDR-spezifisch – wohl aber der ständig gestiegene Fleischkonsum. Besonders war auch, dass die industrialisierte Großlandwirtschaft ideologisch propagiert wurde – bis in die Kinderbücher hinein. In der BRD wird die Landwirtschaft stattdessen seit eh und je mit idyllischen Bauernhöfen beworben. HELMUT HÖGE

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen