piwik no script img

Die Metapher Lampedusa

FLUCHT In Frankfurt diskutierten Wissenschaftler mit Brigitte Zypries die europäischen Grenzregime

Mit Wörtern wie „Agentur Frontex“ wird eher an Ungeziefer- und Unkrautbeseitigung gedacht

In den Medien stehen die Themen Eurokrise, Schuldenkrise und Krisengipfel seit Monaten ganz oben an. Das Grenzregime der EU-Staaten dagegen ist nur dann kurzfristig ein Thema, wenn wieder ein mit Flüchtlingen überladenes Schiff auf offenem Meer in Seenot gerät oder schon gesunken ist.

Mittlerweile ist das Flüchtlingslager auf Lampedusa geräumt. Die EU als sicherer Hafen für Flüchtlinge – das ist kein politisches Thema, sondern allenfalls eines für minoritäre NGOs und Predigten in der Kirche.

Über „Politik an Europas Grenzen“ diskutierten am Montagabend in Frankfurt die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), der Frankfurter Verfassungsrechtler Günter Frankenberg sowie Sonja Buckel und Jens Wissel – beide Mitarbeiter im Frankfurter Institut für Sozialforschung, das die Diskussion mitorganisierte. Die Moderation übernahm Peter Kemper vom Hessischen Rundfunk.

Otto Schily (SPD) – Innenminister von 2002–2009 und Architekt der Demontage des Asylrechts – bot im Rahmen der Debatten über das Schengen-Abkommen den autokratischen Regimes in Nordafrika zwischen Marokko und Libyen die deutsche Erfahrung im Lagerbau an, um die befürchteten „Flüchtlingsströme einzudämmen“ und die Menschen zu kasernieren.

Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi schloss mit Tunesien noch nach der „arabischen Rebellion“ im April und August 2011 Verträge über die „Rückführung“ der in Europa gestrandeten Flüchtlinge aus Tunesien.

Zwei Jahre zuvor kaufte sich Berlusconi bei Gaddafi mit fünf Milliarden Dollar Entschädigung von den italienischen Kolonial- und Kriegsverbrechen frei gegen das Versprechen des Diktators, die Flüchtlinge aus Libyen zurückzunehmen. Inzwischen sind Lagerbau-Angebote und vertraglicher Ablasshandel hinfällig geworden – eine politische Bankrotterklärung waren sie schon zuvor. Zumindest darin waren sich die kontrovers diskutierenden Teilnehmer ziemlich einig.

Günter Frankenberg machte gleich zu Beginn klar, dass der Rückbau des Asylrechts von 1991 – unter dem Druck von 400.000 Asylanträgen – mit einem „trostlosen System“ endete, das dem ehemaligen Rechtsgrundsatz Hohn spricht und rechtsstaatlichen Verfahrensregeln ins Gesicht schlägt. Frankenberg hält das nicht für einen Unfall, sondern vermutet, dass „der politische Wille“ fehlt „für ein akzeptables Flüchtlingsregime“, das heißt für eine Quotenregelung.

Bereits in der Sprache, mit der die Politik über Flüchtlinge spricht, sieht Frankenberg ein Indiz dafür, dass mit Wörtern wie „Agentur Frontex“ eher an Ungeziefer- und Unkrautbeseitigung gedacht wird als an das Schicksal von Menschen.

Sonja Buckel verdeutlichte am Beispiel der Fischerei, wie durch die Lebensweise in den reichen mitteleuropäischen Gesellschaften in Afrika Armut, Elend und Fluchtbereitschaft erzeugt werden: Spanische und andere Hochseeflotten fischen die Fischgründe vor dem Senegal leer – mit der Folge, dass den einheimischen Fischern nur die Wahl bleibt zu verhungern, ihr Leben auf umweltschädliche Fleischproduktion umzustellen oder ihre Boote zum Flüchtlingstransport zu benützen, um Ersatzeinkommen zu erzielen.

Auch ihr Kollege Jens Wissel rückte die menschenrechtliche Perspektive ins Zentrum. Es gibt Gründe für die These, dass militärisch-polizeilich scharf bewachte Grenzen mit Grund- und Menschenrechten nicht koexistieren können. Westliche Staaten räumen das zumindest indirekt ein, wenn sie die Gewährung symbolischer Entwicklungshilfe an die Verpflichtung der Empfängerstaaten binden, ihre Bürger an der Ausreise zu hindern.

Die sozialdemokratische Abgeordnete Brigitte Zypries hatte es gegenüber dem geballten Sachverstand mit ihrem politischen Pragmatismus nicht gerade leicht. Sie verwies zu Recht und mehrfach darauf, dass es gelte, die sozialen und politischen Zustände in den Fluchtländern so zu ändern, dass sich Flucht erübrige. Aber sie musste sich von Wissel, Frankenberg und Sonja Buckel umgehend vorrechnen lassen, wie sträflich die reichen Staaten ihre selbst gesetzten entwicklungspolitischen Zielsetzungen seit 40 Jahren missachten.

Statt mehr „humanitäre Hilfe“ gab es nur immer mehr „Gefahrenabwehr“ – und das auch mit „Waffen“ (Frankenberg). Jens Wissel betonte, dass Frontex nicht nur in einer rechtlichen Grauzone, sondern buchstäblich im Halbdunkel der fast rechtsfreien Zone internationaler Gewässer operiert – und das mit einem Etat, der seit 2005 um das Vierzehnfache gestiegen ist.

Frankenberg verglich die Agentur mit einem „wuchernden Krebs“ – eine zutreffende Beschreibung der „Politik an Europas Grenzen“ und kein Grund zum Abwarten besserer Zeiten. Ohne „Systemwechsel“ (Buckel) kommen die nie. RUDOLF WALTHER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen