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Nicht Abwiegeln, sondern Abschalten

Contergan und die Studie über Blutkrebs bei Kindern in der Nähe von Atomkraftwerken: In Niedersachsen sind Opposition und Regierung über die Folgen aus der Untersuchung unterschiedlicher Meinung

Was folgt aus der neuen Untersuchung, die einen Zusammenhang zwischen der Häufung von Krebskrankheiten bei Kleinkindern und der Nähe ihres Wohnorts zu Atomkraftwerken feststellt? Meiler abschalten oder noch prüfen? Darüber waren sich Opposition und Regierung an diesem Mittwoch im Landtag in Hannover nicht ansatzweise einig – wenige Wochen vor der Landtagswahl hat das auch niemand erwartet.

Beim Beruhigungsmittel Contergan habe man zunächst auch keinen Zusammenhang zwischen der Einnahme durch Schwangere und schweren Missbildungen bei ihren Kindern festgestellt, sagte SPD-Fraktionschef Wolfgang Jüttner. Der „gesunde Menschenverstand“ sage ihm: Es sei nicht akzeptabel, ja Abwiegelei, sich dahinter zu verstecken, dass die Studie nicht beweise, dass die Strahlung der Atomkraftwerke Ursache der Häufung von Krebserkrankungen sei. „Deshalb sind für mich die Voraussetzungen für den Atomkonsens nicht mehr gegeben“. Die Atomkraftwerke in Deutschland müssten wegen der Untersuchung im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) früher abgeschaltet werden als vor sieben Jahren von Bund und Energiekonzernen vereinbart. Kinder unter fünf Jahren haben der Studie zufolge ein um 60 Prozent größeres Risiko, in der Nähe von Kernkraftwerken an Blutkrebs zu erkranken als Altersgenossen in anderen Regionen.

„Ich wohne selbst zehn Kilometer entfernt von einem Kernkraftwerk“, sagte Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP). Dennoch: Die Studie sage nichts darüber aus, dass die Meiler Ursache für die Erkrankungen seien. Das Problem sei nicht durchs Abschalten zu lösen. Sanders Devise: Keine Hektik.

„17 Kinder hätten erkranken müssen, 37 sind erkrankt“, referierte Ministerpräsident Christian Wulff die in der Studie genannte ungewohnte Häufung von Kinder-Blutkrebs in Meiler-Nähe. „Das muss aufgeklärt werden.“ Allerdings habe die Landesregierung bislang von der BfS-Studie nur eine Zusammenfassung. Wulff hat noch viele Fragen, bevor er die Meiler vom Netz nehmen will. Zum Beispiel: „Gab es sie nur um ein Atomkraftwerk? Um zwei? Oder drei?“

„Wer soll denn künftig in diesen Zonen wohnen?“, fragte hingegen Grünen-Fraktionschef Stefan Wenzel. „Sollen das Landkreise ohne Kinder werden?“ Im Zweifel plädiert er für Abschalten, die Sicherheit der Bevölkerung müsse vor den wirtschaftlichen Interessen der Betreiber rangieren. Wulff solle die Betriebserlaubnis der Atomkraftwerke im Land in Frage stellen, sich für schärfere Strahlenschutzvorschriften einsetzen, sagte Wenzel.

Wie die Landesregierung mit den Atomkraftwerken in Niedersachen umgeht, zeigte sich gestern auch in Hildesheim: Sie sieht keine Notwendigkeit, an der Überwachung der Radioaktivität im Umfeld der Kernreaktoren etwas zu ändern. „Wir haben ein sehr dichtes Messnetz“, sagte Christian Eberl, Staatssekretär im Umweltministerium, bei der offiziellen Eröffnung des neuen Lagezentrums für Atom-Überwachung. Dort werden die Daten der jeweils etwa 30 bis 40 Messstellen um die niedersächsischen Atomkraftwerke gebündelt. KAI SCHÖNEBERG

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