: 155 Monate für Krenz? Von Wiglaf Droste
Am Tag der Verkündung des Urteils gegen Egon Krenz erschien auf Seite 3 der Tageszeitung junge Welt ganzseitig und quasi prophylaktisch folgender Anzeigentext: „Wir fordern die unverzügliche Einstellung der politischen Strafverfolgung von DDR-Bürgern. Die Verurteilung von Bürgern der DDR, unter ihnen Grenzsoldaten, Richter, Staatsanwälte, Offiziere und Generale sowie das frühere Staatsoberhaupt der DDR, Egon Krenz, ist in der Weltgeschichte ein einmaliger Vorgang von politischer und juristischer Vergeltung. Wir sind für ein friedliebendes, solidarisches, humanes und gerechtes Deutschland, in dem jeder sein Recht auf Arbeit, Wohnen, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Leben verwirklichen kann. Die politische Bestrafung von DDR-Bürgern zielt auch auf unsere Entsolidarisierung ab. Ohne uns! Deshalb ist jede und jeder von uns bereit, als Zeichen der Solidarität an Stelle von Egon Krenz für einen Monat in einer BRD-Strafvollzugsanstalt einzusitzen.“
Unterschrieben hatten dieses Bekenntnis 155 Menschen; wie kamen die nur dazu, solches Pathos abzusegnen – noch dazu, bevor sie das Urteil kannten? Und wieso, zählte ich durch, wurden für Krenz 155 Monate Knast aufgeboten, also zwölf Jahre und elf Monate? Soviel Knast drohte ihm doch nie! – Als Krenz dann sechseinhalb Jahre, also 78 Monate bekam, gab es darüber hinaus quasi ein Überhangmandat von 77 Monaten! Wollten die doppelt sitzen für Krenz? – Ach was. Jeder der Unterzeichnenden weiß, daß man – selbst, wenn man's wirklich wollte – nicht stellvertretend für jemand anderen brummen kann, es sich also um eine symbolische bzw. gratismutige Geste handelt.
Ganz unberührt davon bleibt die Tatsache, daß das Urteil gegen Egon Krenz juristisch unhaltbar ist: So wie Konstantin Wecker eben nicht für seine schrecklichen Lieder, sondern wegen etwas Kokain verurteilt wurde, beharkte man Egon Krenz auch nicht für sein päderastisches In-kurzen-Hosen-Herumlaufen mit der FDJ – er wurde für die Dummheit verurteilt, Honecker abzulösen und dann auf dufte zu machen. (Woraus man lernen kann: Schleime nie bei deinem Feimd / Du bist sowieso geleimt.)
Geärgert hat mich die peinliche Anzeige, weil ich seit Mai 1994 in der jungen Welt schreibe – wo ich aber immerhin schon den allkompatiblen Medienstreber Oliver Tolmein und seinen ehemaligen Verleger Erik Weihönig überlebt habe. Die sind da weg, und neu hinzugekommene Plagen wie der deutschnational frustrierte Renten-Kolumnist Harald Wessel werden sich ebenfalls erledigen.
Wie das auch andere ihrer Art ganz prima tun: In einem am 27.August 1997 vom Noch-taz- Medien-Redakteur Oliver Gehrs verantworteten bzw. selbst geschriebenen Artikel über den Zeitungskampf zwischen Tagesspiegel und Berliner Zeitung heißt es: „Während die Konkurrenz von der Berliner Zeitung ab nächster Woche mit einem umfassend reformierten Blatt auf die Suche nach neuen Lesern geht, werden die des Tagesspiegel, der im Unentschieden verharrt, immer älter.“
Nichts gegen Kritik am dumpfen Tagesspiegel – Oliver Gehrs aber ist ab dem 1.September 1997 Angestellter der Berliner Zeitung. Für 155 Monate? Zur Strafe? Ich hoffe doch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen