piwik no script img

■ Schon bei Griechen und Römern wurden Gänse gezüchtet und gern gegessen. Anderswo galten sie als unantastbar, weil heilig. Mit der Weihnachtsgans verleibte sich das Christentum heidnische Bräuche ein Von Heide PlatenGöttervogel, Schnatterlieschen

Gänse sind, verglichen mit Hund, Kuh und Katz, erst spät Haustiere geworden. Eine rätselhafte Statuette aus der sumerischen Stadt Ur zeigt die Göttin Ban, auf zwei Gänsen sitzend und zwei zu ihren Füßen. Daß bereits die Ägypter vor 4.000 Jahren Gänse hielten, belegen Wandbilder, Reliefs und Funde mumifizierter Gänsebraten.

Da liegt sie, alle Jahre wieder, auch noch am dritten Feiertag. Ein brauner Knochenberg, kahle Rippen, graue Fasern und Gallert. Und reicht fast bis Sylvester. – Die obligatorische Weihnachtsgans war in den fünfziger Jahren eine Anstrengung, nicht nur finanziell, sondern auch in ritueller Zubereitung und ebensolchem Verzehr. Zuvor hatte der talgige, schwere Riesenvogel körperlichen Einsatz verlangt und Feuergefahr bedeutet: Über einer kleinen Emailschüssel im Waschbecken mußten die schwarzen und weißen Federkiele abgesengt werden. Die Flammen schwebten unheimlich blau in der Spüle wie Irrlichter. Es stank nach Brennspiritus, verbranntem Haar, verbrannter Gänsehaut. Dann wurde die Gans, sagte Großmutter, „ausgelassen“. Was bedeutete, daß die dicken, gelben Fettschichten eine brandheiße Verwandlung zum Gänseschmalz durchmachten. Das langte als Brotaufstrich bis Ostern. Heiligabend gab es Nudelsuppe mit Gänseklein, Hals, Herz, Leber, Magen. Das Braten nebst Wenden des Riesentiers im engen Backofen am nächsten Tag war ein militärisches Manöver, erforderte Vaters Kommandos und implizierte zwangsläufig den weihnachtlichen Familienkrach. Der braune Braten stand dann an beiden Feiertagen auf dem Tisch. Und mußte, unweigerlich nächster Streitpunkt, fachgerecht zerlegt werden. Vater bekam – ein Naturgesetz – die Keulen, Mutter die Brust. Den Kindern blieben Flügel und der Sterz. Dann kam, dritter Feiertag, die Hackfleischfüllung auf den Tisch. Zuletzt wanderte das zerhackte Gerippe in den Topf und ergab, abermals gründlich ausgekocht, „eine gute Suppe“, angedickt mit Gries oder Graupen.

Das Brustbein diente als Wetterorakel. War es braun, ließ es auf einen milden Winter hoffen, „ist aber weiß, kommen Schnee und Eis“. Die wilden Gänse, Sehnsuchtsvögel der nationalistischen Volksmusik, zogen zwei Monate später „mit schrillem Schrei nach Norden“, keilförmig dem Frühjahr vorweg.

Die Graugans (Anser anser), graubraun befiedert, mit rotorangenem Schnabel und ebensolchen Beinen, ist die größte eurasische Gänseart. Sie ist die Urahnin aller Hausgänse der westliche Hemisphäre. Sie wurde in Netzen gefangen, gemästet, später auch gezüchtet und zu den Opferfesten geschlachtet. Ihre Haustierwerdung veränderte sie: machte sie schwerer, watschelnder, fetter und verringerte ihr Hirnvolumen. Knochen- und Schriftfunde belegen, daß sie sich zu wahren Riesenviechern entwickelte, die „auf dem Bauche liefen“. Das blieb den Gänsen am Nil erspart. Sie waren, außer Opfertieren, Ziervögel und Statussymbol der Reichen. Die streitsüchtigen Tiere symbolisierten Mut und Freiheitsliebe. Während der Herrschaft Ramses III. (1193–1162 v. Chr.) am Nil meldeten Tempelstatistiken die Lieferung von 680.714 Gänsen.

Auch die Griechen hielten Gänse. Sie waren der Aphrodite geweihte Vögel der Fruchtbarkeit, nicht nur dann, wenn sie goldene Eier legten. Und, weil monogam lebend, die Tiere der Treue. In der „Odyssee“ freut sich die ihres Gemahls harrende Penelope an ihrer 20köpfigen Gänseschar. Heilige Gänse lebten auch in den Tempeln der römischen Göttermutter Juno, der Schirmherrin der Ehe. Ein anderer, von den Römern adaptierter, vorhellenistischer Gänsegott war anzüglicher: Priapus, der Gott der Fruchtbarkeit und lang anhaltenden Erektion. Zu militärischen Ehren als Vögel des Kriegsgottes Mars gelangten Gänse 390 v. Chr. Die Tempelgänse warnten mit ihrem Geschrei, erzählt die Legende, als die Gallier vor dem Kapitol standen.

Das ungefähr zeitgleich domestizierte, asiatische Pendant zur Hausgans, die Höckergans, stammt von der wilden Schwanengans (Anser cygnoides) ab. Kreuzungen beider ergaben in Rußland die Tulaer Gänse, deren besonders streitsüchtige Ganter seit dem 16. Jahrhundert, analog zum Hahnenkampf, abgerichtet wurden, sich mit den Flügeln zu prügeln und zu beißen. Ihre Aggression wurde dadurch angestachelt, daß die Lebenspartnerinnen am Rand der Arena zuschauen mußten und aufgeregt schnatterten. Südostasiatische Köche, sonst angeblich nicht wählerisch, mochten die Gänse nicht. Sie favorisieren Enten. Den Römern schmeckten ihre Gänse gut. Sie mästeten sie in Gänsehöfen mit Milch und Honig. Die Eier wurden weichgekocht verzehrt. Stopflebern waren schon damals eine Delikatesse. Für besonders große und zarte empfahl sich die Mast mit süßen Feigen. Als besonders wertvoll und fruchtbar galten die auch bei wilden Gänsen immer wieder vorkommenden Albinos. Römische Agrarschriftsteller empfahlen sie besonders zur Weiterzucht. Was nahelegt, daß die Römer ihre Bestände durch Wildfänge und deren Gelege und Brut vergrößerten. Als Anser trojanus wurde römischer Gänsebraten mit Birnen, Quitten und Kastanien serviert. Auch Kelten und Germanen schätzten den Vogel. Die belgischen Moriner lieferten den Römern beste, schneeweiße Daunen und ganze Gänseherden. Angeblich sollen die Tiere lebend über die Alpen getrieben worden sein. In Britannien, berichteten römische Reisende, galten die der Göttermutter Freya geweihten Tiere als so heilig, daß sie nicht verspeist werden durften.

Das synkretistische Christentum verleibte sich jedoch nicht nur fremde Götter und Weihestätten ein, sondern ganz nebenbei auch den vorchristlichen Opferschmaus: Die Gans, vormals Götterbotin, Sturmwarnerin, wurde nach und nach zur dummen, zur Martins- und Weihnachtsgans. Noch die Kreuzfahrer hatten Gänse auf ihre Eroberungszüge mitgenommen und „wanten, daz der heilig geist in der gens wer“.

Faule Weiber, Geschwätz, Freßgier, Dummheit, falsche Predigt, ketzerischer Gänseglaube, Unkeuschheit und Saufgelage wurden ihr ans Federkleid geheftet. Legenden erzählten nun, daß die schnatternden Gänse ihren guten Hirten, den heiligen Sankt Martin, verraten hätten. Aber wie das so ist mit der Einvernahme: Es blieben „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?“ und „Heile, heile Gänschen“, deftige Reste des erotischen Tiers: „Gretel Pastetel, was machen die Gäns? Sie sitzen im Wasser und waschen die Schwänz.“ Und: „Was trägt die Gans auf ihrem Schwanz? Dank sei der Federgans: eine Jungfrau in dem Hochzeitskranz.“ Den Hochzeitskranz bringt sie der Braut, nicht nur um des Reimes Willen, auch in dem Lied von der „Vogelhochzeit“.

Während der zoologische Familienangehörige Schwan manchen romantischen Part der Gans übernahm, wurden die Gänse, nun ohne Schuhe und wie ihre Hirten ziemlich am Fuße der sozialen Leiter, zum Symbol für märchenhaft arme und ehrliche Hütehansel und Gänseliesel. Die stiegen wahlweise als arme, gänsebrüstige Kinder von Wiese und Wegrain auf zu Prinzen. Oder aber Prinzessinen mußten, verstoßen und verwunschen, die Gänse treiben und Gänsewein trinken: „Sie hat drei Jahre lang die Gänse hüten müssen; sie hat nichts Böses dabei gelernt, sondern ihr reines Herz behalten.“ Die Hexe wird zur weisen Frau, und alle Gänslein werden zu schönen Mädchen. Und mit der goldenen Gans bekommt schließlich auch der letzte Dümmling des Königs Töchterlein. Gustav Gans allerdings, Walt Disneys angeberischer Glücksgänserich, wird Daisy, Maßliebchen, Gänseblümchen, nie bekommen. Den Pflanzen ging es übrigens nicht anders als ihren Namensgeberinnen. Sie wurden von der Heilpflanze zum profanen Liebesorakel junger Mädel – „er liebt mich, er liebt mich nicht“ –, zum Unkraut degradiert.

Die zoologische Rehabilitation der dummen Gans gelang erst dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Er durchlitt nicht nur die versehentliche Prägung des Gänsekükens Martina auf ihn selbst als Gänsevater, sondern beschrieb das Verhalten der Graugänse akribisch vom Schlüpfen bis zur Feundschaft und Partnerbindung. Daß die Sexualität bei der festen Paarbindung, Priapus hin oder her, von Gans zu Gans kaum eine Rolle spielt, beobachtete er anhand dauerhafter Paarbindungen zwischen Gantern, denen Rituale wie der gemeinsame Triumphschrei wichtiger waren als die erfolgreiche Fortpflanzung. Lorenz notierte Eifersucht, Trauer, Haß und vielerlei andere zwischengänsliche Gefühle.

Nicht nur das verdirbt den Appetit. Tierschützerische Dokumentationen zeigen Zwangsmästung, krankhaft vergrößerte, gelbgraue Stopflebern und das brutale Rupfen der Gänse in Massentierhaltungen. Dabei sind Gänse lebend nützlicher als Unkrautvertilgungsmittel. Sie fressen besonders gern die lang- und zähwurzelnden Quecken. In den USA werden sie in Erdbeer- und Spargelfeldern erfolgreich im Gänsemarsch eingesetzt und in Norddeutschland neuerdings im Feldversuch auf Kartoffeläckern erprobt.

Schluß und Gänsefuß. Über den Jean Paul räsonniert: „den alten Horaz z.B. redet in seinen satiren jeder narr an, ohne dasz die alten nur durch die kleinsten ,gänsefüsze‘ oder ,hasenöhrchen‘ angezeigt oder unterschieden hätten, wer eigentlich rede.“s

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen