■ Im Iran tobt ein Kampf zwischen Theokraten und der Gesellschaft, die sich von Chomeinis Idealen emanzipiert. Der Ausgang ist ungewiß. Sogar ein Putsch der Islamisten ist möglich: Die Sehnsucht nach Demokratie
Unmittelbar nach den Studentenunruhen im Iran haben vierundzwanzig hochrangige Offiziere der Organisation der Revolutionswächter in einem Schreiben Staatspräsident Chatami vor der Fortsetzung seiner Reformpolitik und der weiteren Lockerung der politischen Zügel gewarnt. Ihre Geduld sei am Ende, sie könnten nicht mehr mitansehen, wie die mit dem Blut der Märtyrer erkauften Errungenschaften der Revolution zunichte gemacht, wie der Gottesstaat von Handlangern der Imperialisten und Zionisten unterhöhlt werde.
Dieses als streng geheim bezeichnete Schreiben wurde in einigen konservativen Zeitungen veröffentlicht, ein Verbot, das ohne die Zustimmung des Revolutionsführers Chamenei nicht hätte überschritten werden können. Die Warnung ist unzweideutig: Entweder wird der seit der Wahl Chatamis vor zwei Jahren eingeleitete Prozeß der Liberalisierung beendet, oder es wird einen Putsch geben.
Dies ist die bislang heftigste Drohgebärde der Islamisten gegen Chatami und seine Anhänger. Sämtliche bisherigen Versuche, das Volk einzuschüchtern und den Staatspräsidenten von seinem Reformkurs abzubringen, waren gescheitert. Die Morde an Schriftstellern und Intellektuellen Ende vergangenen Jahres, die ständigen Verbote liberaler Zeitungen und Inhaftierungen von Journalisten, das Mißtrauensvotum gegen Chatamis Kultusminister Mohadscherani und ähnliche Maßnahmen, Tricks und Taktiken haben die erwünschte Wirkung bislang nicht erzielen können.
Im Gegenteil: Statt die Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen, wurden die Proteste in der liberalen Presse, in der Bevölkerung, ja sogar in den Kreisen der islamischen Geistlichkeit immer lauter. Der massive Druck der Öffentlichkeit brachte die Islamisten arg in Bedrängnis.
Schließlich mußte das Informationsministerium öffentlich zugeben, daß die Morde von Mitgliedern des Geheimdienstes geplant und ausgeführt worden waren. Der Unmut in der Bevölkerung stieg rapide an, so daß die Islamisten bei den Kommunalwahlen im Februar dieses Jahres eine herbe Niederlage einstecken mußten. Die kritische Presse schlug immer schärfere Töne an, sie verlangte unter anderem die vollständige Aufklärung der Morde und die harte Bestrafung der Täter und Auftraggeber.
Im Gegenzug reagierten die Islamisten mit der Vorlage eines Gesetzes, das die Aufhebung der mühsam errungenen relativen Freiheit der Presse vorsieht. Dieses Gesetz wurde vor drei Wochen in erster Lesung verabschiedet. Das gleichzeitige Verbot der kritischen Tageszeitung Salam lieferte den Anlaß zu den jüngsten Studentenprotesten.
Der starke Widerstand der Studenten, bei dem sogar der Rücktritt des Revolutionführers gefordert wurde, war für die Islamisten ein wichtiges Warnsignal. Sie ließen ihre Schlägertrupps ein Studentenheim in Teheran überfallen, wobei eine immer noch unbekannte Zahl der dort streikenden Studenten getötet und zahlreiche verletzt wurden, ließen Studentendemonstrationen in der Hauptstadt und anderen Großstädten brutal niederschlagen, sie organisierten zur Demonstration ihrer Macht eine Großkundgebung und drohten mit einem Putsch.
Damit haben die politischen Auseinandersetzungen im Iran eine neue Stufe erreicht. Die Lage ist äußerst prekär. Die Islamisten scheinen dazu entschlossen, ihre Macht mit allen Mitteln behaupten zu wollen, selbst dann, wenn sie dafür ein Blutbad anrichten müßten. Völlig zu Recht befürchten sie, daß sie bei Fortsetzung der gegenwärtigen Zustände die Parlamentswahlen im Februar nächsten Jahres haushoch verlieren würden. Denn bei halbwegs freien Wahlen ist es so gut wie sicher, daß die Reformer den Sieg davontragen und diese wichtige Bastion erobern würden.
Für die Islamisten ist es also höchste Zeit, im Machtkampf gegen die Reformer eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen. Die große Frage ist, ob sie dazu noch imstande sind. Formal verfügen sie nahezu über sämtliche Instrumente der Macht. Aber können sie diese auch im Ernstfall einsetzen? Auf die reguläre Armee, die immer noch das Erbe des Schahregimes trägt, haben sie sich nie richtig verlassen können. Das war auch der Grund für den Aufbau der Organisation der Revolutionswächter, einer Art Volksmiliz, die sich nach dem Sieg der Revolution aus treuen Anhängern Chomeinis rekrutierte.
Inzwischen ist sie zu einer riesigen Armee gewachsen. Wie es aber nun bei den Offizieren und Soldaten dieser Armee um die Treue zum Revolutionsführer Chamenei bestellt ist und ob diese bereit sein werden, ihre Waffen gegen das Volk zu richten, ist zumindest fraglich. Fest steht jedenfalls, daß sie bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren mehrheitlich nicht für den Kandidaten der Konservativen, Nategh Nuri, sondern für den Reformer Chatami gestimmt haben.
Es ist durchaus möglich, daß die Organisation der Revolutionswächter im Falle eines Einsatzes gegen das Volk wie damals die Armee beim Volksaufstand gegen den Schah sich spaltet und wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Davon abgesehen können geistliche Oberhäupter schwerlich gegen die Masse der Gläubigen Waffen einsetzen. Damit würden sie vollends ihre Legitimation verlieren. Chatami ist seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten bemüht, eine offene Konfrontation der beiden Lager zu vermeiden und auf legalem Weg behutsam und durch kleine Schritte Änderungen herbeizuführen. Er stellt das System nicht in Frage, obwohl die von ihm angekündigte und angestrebte „zivile Gesellschaft“ in krassem Widerspruch steht zu dem System des Welajate Faghieh, der absoluten Herrschaft der Geistlichkeit. Sein sanftes taktisches Vorgehen hat in der Tat die politische Atmosphäre spürbar verändert, ohne die eroberten Freiräume auch sichern zu können. Immer wieder versucht er dem Druck aus der Bevölkerung, die ungeduldig nach Reformen ruft, aber auch dem der Islamisten, die ihre Macht schwinden sehen, auszuweichen.
Diese Gratwanderung kann nicht von langer Dauer sein. Allem Anschein nach hegt Chatami die Hoffnung, sie zumindest bis zu den Parlamentswahlen im Februar nächsten Jahres fortsetzen zu können. Die Ausweitung der Studentenproteste über den Rahmen der Universitäten hinaus machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Ob die erfolgten Ausschreitungen von den Studenten selbst, die in ihrer überwiegenden Mehrheit zum Lager Chatamis tendieren, bewußt geplant worden war oder ob es nicht vielmehr Provokateure waren, die im Auftrag der Islamisten den Vorwand zur massiven Gewaltanwendung geliefert haben, läßt sich nach bisherigen Erkenntnissen nicht eindeutig beantworten.
Wie auch immer, in dieser Runde haben die Islamisten einen Sieg für sich verbuchen können. Ist dies das Ende der Reformbewegung? Nach meiner Überzeugung keineswegs. Der Protest der Studenten spiegelt den Wunsch und die Sehnsucht des überwiegenden Teils der Bevölkerung nach einer offenen, demokratischen, freien Gesellschaft, nach einem Ende der Willkür, der Unterdrückung, der Zensur, der Folterungen und Hinrichtungen, der ökonomischen Misere, der Korruption, der Vetterleswirtschaft.
Diese Sehnsucht ist nicht nur bei politisch Engagierten spürbar, sondern allgemein bei den Frauen, den Jugendlichen, den Arbeitslosen, die dreißig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung bilden, bei den Massen, die am Rande oder unter dem Existenzminimum leben.
Was jetzt im Iran in Erscheinung tritt, ist der politische Ausdruck eines aufklärerischen Prozesses, der nach Chomeinis Tod vor zehn Jahren in allen Bereichen der Gesellschaft bis hin zu den theologischen Kreisen begonnen hat und sich jetzt verstärkt fortsetzt. Es ist eine Abrechnung mit der zwanzigjährigen klerikalen Despotie, aber auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und Tradition und nicht zuletzt mit dem Islam.
Dieser Prozeß nagt an der Substanz des absoluten Gottesstaates. Er wird unabhängig von einzelnen Personen durch Ebbe und Flut seinen Weg bahnen. Eine Rückkehr zur Ära Chomeinis wird es nicht mehr geben. Bahman Nirumand
Die Einschüchterungspolitik der Konservativen hat ihr Ziel verfehltDie „Revolutionswächter“ könnten im Ernstfall auseinanderfallen
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