piwik no script img

Fließende Identitäten

Nicht Zeit und Raum beherrschen den Fluss, sondern er beherrscht sie, stetig, lindernd, bleibend: Unter dem Motto „Grenzen im Fluss“ bereisten dreißig Autoren und Autorinnen aus Deutschland, Polen und den Niederlanden zehn Tage lang die Oder. Momentaufnahmen einer literarischen Schiffsreise

Die Stettiner freut es, wenn in Deutschland alles drunter und drüber geht

VON UWE RADA

Es sind die Untiefen. An der Schleuse von Brzeg Dolny ist Schluss. Jan Niemiec, der Kapitän der „Adler-Queen“, thront auf der Brücke und raunt: „Wären wir pünktlich losgefahren, hätten wir die Welle bekommen.“ Die Welle, das ist aufgestautes Wasser, das den Oderschiffen über das Niedrigwasser helfen soll. Doch nun ist die Welle ohne die „Adler-Queen“ flussabwärts gegangen. Die 30 Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus Deutschland, Polen und den Niederlanden, die am Abend zum Empfang im Zisterzienserkloster von Lubiąż erwartet werden, müssen auf einen Bus hoffen. Schon am zweiten Tag der Reise, meint einer scherzhaft, bewahrheite sich das Motto der literarischen Bootsfahrt auf der Oder: „Grenzen im Fluss“.

Der Empfang am Abend davor war Ehrensache. Nacheinander sprachen: der Rektor der Universität Breslau, der Stadtpräsident, der Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland, der Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europaschulen an der Universität Breslau, die Generalsekretärin der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen, der Leiter des Kleistmuseums in Frankfurt (Oder). Die Oder, lautete ihre Botschaft, sei nach dem Ende der europäischen Teilung wieder ein Fluss, der verbinde. Und Breslau, natürlich, seine große Metropole. Ebenso natürlich hatte die Podiumsdiskussion, die dem Empfang in der Aula Leopoldina folgte, den Titel „Literatur und Grenzüberschreitung“. Und natürlich sagte der in Utrecht lebende deutsche Lyriker und Übersetzer Gregor Laschen Sätze wie diese: „Ich habe in verschiedenen Länder gelebt, folglich ist meine Identität fließend.“

Alles im Fluss also? Mit der ebenso höflichen wie bestimmten Antwort seiner Stettiner Kollegin Inga Iwasiów hatte Laschen wohl nicht gerechnet. „Ich kann nicht von vielen Reisen in meiner Kindheit berichten. Meine einzige Reise führte mit dem Schiff nach Schwedt. Nicht jeder ist ein Nomade und kann von fließenden Identitäten erzählen.“ Der Dresdener Schriftsteller Thomas Rosenlöcher dürfte es dagegen gern gehört haben. „Warum soll ich nicht über Sachsen schreiben“, fragt er später auf einer Lesung: „In Sachsen ist doch die ganze Welt zu Hause?“

Die deutsche, polnische und holländische Literatur auf einem Schiff zu Hause, das war Lothar Jordans Traum. Über 500.000 Euro hatte der Leiter des Frankfurter Kleistmuseums gesammelt, um sich diesen Traum vom Projekt „Oder–Rhein 2004“ verwirklichen zu können. Schriftsteller aus drei Ländern auf zwei Grenzflüssen, das überzeugte die Geldgeber. Und die Autoren. Aus Deutschland kamen neben Rosenlöcher unter anderem Judith Kuckart, Tanja Dückers und Michael Zeller, aus Holland Hans Maarten van den Brink, Margriet de Moor und Oscar van Bongard, aus Polen neben Inga Iwasiów unter anderem Olga Tokarczuk und Urszula Kozioł. Erst die Oder, dann der Rhein, so wollte es Jordans Regie. Erst das langsame, dann das schnelle, erst das neue, dann das alte Europa, erst Osten, dann Westen. Vielleicht sieht Europa wirklich anders aus, wenn man es zunächst von der Oder betrachtet.

Doch welche Bilder hat man von der Oder? Welche Vorstellungen haben die Autoren vom Fluss, der Polen und Deutschland einst trennte? „Die Oder-Neiße-Grenze“, sagt Hans Maarten von den Brink, „bestimmt im Westen noch immer das Bild des Flusses.“ Als Gegenbeweis liest Henryk Bereska ein Gedicht über den Fährmann, der er inzwischen selbst ist, seitdem er polnische Literatur ins Deutsche übersetzt. Der ostdeutsche Lyriker Richard Pietraß wiederum redet von den Posten, die am Fluss stehen und Wache halten. Es scheint, als habe der Fluss noch immer keine anderen Bilder hervorgebracht als die der Grenzpfähle. Einzig Olka Tokarczuk, Polens vielleicht wichtigste Autorin der Gegenwart, versucht sich an einer neuen Poetik der Oder: „Es heißt, man steige nie zweimal in den selben Fluss“, zitiert sie Heraklit. „Diese Annahme ist ein unverzeihlicher Fehler, denn man verwechselt den Fluss mit dem Wasser, das er führt.“ Während ihrer Lesung in Nowa Sól sagt Tokarczuk, sie fühle sich ganz sicher, dass die Oder, die sie aus Kinderzeiten in Erinnerung habe, dieselbe ist, die sie heute sehe. „Nicht Zeit und Raum beherrschen den Fluss, sondern er beherrscht sie, stetig, lindernd, bleibend, hält er ein ganzes Land an seinem festen sicheren Ort.“

Vom Deck der „Adler-Queen“ sieht man Auenwälder, atemberaubende Flussbiegungen, grasbewachsene Buhnen, Sandbuchten: eine wilde Flusslandschaft mitten in Europa. Nur selten kommt ein Schubverband entgegen. „Unterhalb von Brzeg Dolny ist die Oder im Sommer kaum einen Meter tief“, sagt Jan Niemiec, der Kapitän. Es ist seine erste Flussfahrt auf der Oder, seit die Butterfahrten zwischen dem brandenburgischen Gartz und Stettin am 1. Mai eingestellt wurden. „Danach wird das Schiff verkauft“, sagt er ohne Verbitterung. „Tourismus auf der Oder? Das kann sich keiner leisten.“ Es sei denn, er macht 1.099 Euro für eine Kreuzfahrt zwischen Berlin und Breslau locker. Soviel kostet die zweiwöchige Fahrt auf der „MS Saxonia“, die vor drei Jahren eigens für die Oder gebaut wurde. „1,05 Meter Tiefgang statt 1,20 wie die ‚Adler-Queen‘ “, sagt Niemiec, „das ist ein Argument.“ An den Erfolg der „Saxonia“ glaubt er dennoch nicht. „Wenn die nicht auf eine Sandbank laufen wollen, können sie nicht im Sommer fahren, sondern nur im Herbst oder Frühjahr. Da macht doch keiner eine Kreuzfahrt.“

Auch Lothar Jordan hätte die „MS Saxonia“ für sein Oder-Rhein-Projekt chartern können, entschied sich aber für das ehemalige Butterschiff. Er erklärt das so: „Wir wollten nicht wie ein Raumschiff über den Fluss fahren.“ Das Dichterschiff ist trotzdem ein Elfenbeindampfer. Die Lesungen an Land werden kaum besucht. Die Dichter bleiben meistens unter sich. Nur einmal, beim Zwangsstopp in Brzeg Dolny, kommen ein paar Mädchen aus den Dörfern hinter der Schleuse. Jemand hatte ihnen gesagt, da liege ein Schiff mit Dichtern auf der Oder, und so kritzelten sie schnell ein paar Zeilen auf Papier. Nun reichen sie es herum. „Unsere kleinen Dichterinnen“, sagt jemand anerkennend. Voller Stolz radeln sie zurück.

„Die Oder-Neiße-Grenze bestimmt im Westen noch immer das Bild des Flusses“

Die lustigsten sind die Stettiner. Die Redakteure und Mitarbeiter der Literaturzeitschrift Pogranicza (Grenzlande) müssen keine ernste Miene auflegen, wenn sie über die deutsch-polnische Zusammenarbeit, die Geschichte der Odergrenze, die Suche nach einer gemeinsamen „kleinen Heimat“ reden. Am meisten freut es die Stettiner jedoch, als in Deutschland alles drunter und drüber geht. In Eisenhüttenstadt gibt es keinen Bus, in Fürstenberg keinen Strom, und im Hotel „Stadt Berlin“ hängt ein großes Schild: „Fahrstuhl defekt“. „Das ist die Polonisierung Ostdeutschlands“, scherzt Andrzej Kotula, der die Dichterfahrt im Auftrag der Stadtverwaltung von Stettin begleitet. Als später in Polen alles klappt, lächelt er: „Und das ist die Germanisierung Westpolens.“

Die Breslauer können darüber weniger lachen, vor allem nicht die Lyrikerin Urszula Kozioł. Kaum hat der Osteuropahistoriker Gregor Thum auf der Adler-Queen zwischen Eisenhüttenstadt und Frankfurt (Oder) sein Buch „Die fremde Stadt. Breslau 1945“ vorgestellt, sagt Kozioł: „Breslau war auch schon vor 1945 polnisch, es gab polnische Studenten, auf der Dominsel gab es polnische Priester.“ Einen Moment lang herrscht Schweigen unter Deck. Sollte die deutsch-polnische Geschichte, die Geschichte von Besetzung, Vernichtung und Vertreibung, auch die Autoren wieder einholen? Ins Schweigen hinein erzählt schließlich der 1944 in Breslau geborene Michael Zeller seine Geschichte. Er berichtet, wie er 1991 Krakau besuchte. „Plötzlich kam mir die Idee, ob ich nicht mal in Wroclaw vorbeischaue, einer Stadt, die für mich bis dahin nur einen Eintrag in meinem Pass bedeutete.“ Breslau ließ ihn dann nicht mehr los. „Das war ein Hammer, daran arbeite ich heute noch.“ Urszula Kozioł, die alte Dame der Breslauer Lyrik, antwortet darauf nichts. Unter den Stettinern macht inzwischen ein Zettel die Runde, darauf die Worte: „Nobla natychmiast!“ – „Sofort den Nobelpreis“!

In Frankfurt wird aus den „Grenzen im Fluss“ dann die Grenze. Nicht nur für Michael Zeller, der seinen Ausweis vergessen, aber noch einmal Glück hat. Der Bundesgrenzschutz nimmt es nicht so genau –außer bei Jurij Andruchowycz, dem einzigen ukrainischen Autor an Bord. Kaum ist die feierliche Eröffnung des Gartens und die Lesung im Kleistmuseum beendet, trennt sich die Gesellschaft. Die Deutschen und die Holländer bleiben in Frankfurt. Die Polen, Jurij Andruchowycz und Michael Zeller zieht es ins gegenüber liegende polnische Słubice.

Jan Niemiec, der Kapitän, hat sich inzwischen seinen eigenen Reim auf die Grenzen im Fluss gemacht. Auf dem Rhein wird ein anderes Schiff fahren als die „Adler-Queen“, ein nobleres, vielleicht auch ein schnelleres, schließlich ist der Rhein im Vergleich zur Oder eine Rennstrecke. „Wahrscheinlich ist das meine letzte Fahrt“, sagt er am nächsten Morgen, als die „Adler-Queen“ schon Richtung Stettin und ihrem Ende zutuckert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen