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Die Ostwand wird zur Klagemauer

In Polens Osten verarmt die Landbevölkerung / Niemand will die alten Staatsgüter kaufen / Einziges Kapital scheint die intakte Natur: Eine der gesündesten Gegenden Europas wartet auf Touristen  ■ Von Klaus Bachmann

Hinter Krynki hört der Asphalt plötzlich auf, und der überraschende Wintereinbruch mit Schneeverwehungen und Glatteis erweist sich als Rettung – ohne ihn würde man auf dem löchrigen Feldweg im Morast versinken. Einzelne fast kahle Hügel, einige Wäldchen ziehen vorbei, dazwischen verlassene Holzhütten, zerfallene Häuser mit eingestürzten Dächern. „Grzybowszczyna“ steht auf einem einsamen Wegweiser. Von hier ab verläuft die Straße parallel zur polnisch-weißrussischen Grenze, doch weder Wachposten noch Grenzpfähle weisen darauf hin. Nach acht Kilometern ist dann jedoch Endstation: Ein holpriger Pflasterweg führt mitten in ein verlassenes Dorf.

Von den etwa 20 Häusern sehen nur drei oder vier bewohnbar aus, an einem davon hängt ein rotes Werbeschild „Schultheiss“. Die Fenster sind eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt, die Dächer hängen schief und weisen Löcher auf. Manche Hütten wurden nicht verputzt, sondern mit Teerpappe abgedichtet. Trotz einer Temperatur von fünf Grad unter Null steigt nirgendwo Rauch aus einem Kamin. Nur ein kleiner Lkw, der mitten im Dorf geparkt hat, stört das Bild. Er kommt mehrmals die Woche, um Lebensmittel zu verkaufen, denn der nächste Laden ist zehn Kilometer von hier in Krynki. Und so schlurfen aus den umstehenden Ruinen langsam drei, vier uralte Frauen in abgetragenen Mänteln auf den Lastwagen zu.

Das Staatsgut Krynki, auf polnisch PGR abgekürzt, nein, das sei hier nicht, erklären sie und beschreiben dann in einem breiten, russischklingenden Akzent den Weg zurück. „Aber da ist nichts mehr“, sagt eine der alten Frauen, „ist aufgelassen, nur noch die Wohnblocks stehen.“ Sie blickt auf den Wagen mit Warschauer Kennzeichen: „Wollen Sie es vielleicht kaufen?“ fragt sie hoffnungsvoll. Auf dem Weg zurück liegen noch mehrere ähnliche Dörfer. In einem toben zwei kleine Hunde über die Straße, ein alter Mann beackert seinen Vorgarten. Sonst keine Menschenseele.

Das PGR Krynki erweist sich als eine öde Wohnsiedlung mit schon vor Jahren verbleichtem Putz, abbröckelnden Balkonen mit Plastik- und Blechbrüstungen und Holztüren, die man vorsichtig behandeln muß beim Öffnen. Vor der Siedlung stehen nur einige wenige Polski Fiat. Dazwischen spielen Kinder. Das Verwaltungsgebäude ist eine zweistöckige Baracke. Es sieht aus wie auf einer Baustelle. „Wenn wir fertig sind, zieht hier der Grenzschutz ein“, erklärt Eugeniusz Klosinski, der Konkursverwalter des PGR. Kosinski untersteht der staatlichen „Agentur für landwirtschaftliches Eigentum“ in Warschau, die gebildet wurde, um die landwirtschaftlichen Staatsgüter entweder zu privatisieren oder abzuwickeln.

Im polnischen Nordosten wird fast nur noch abgewickelt. Kosinski: „Die Erde hier gibt nicht viel her, und wir haben noch einen Haufen Altschulden aus der Zeit vor der Wirtschaftsreform. Damals waren Kredite billig, doch nach 1989 kam die Inflation und die Bankenreform, und die Zinsen stiegen immer höher.“ Früher war PGR Krynki der größte Arbeitgeber der Gegend: 350 Familien, etwa die Hälfte der Einwohner von Krynki, lebten davon. Heute arbeiten noch 25 Menschen bei Kosinski. Das Vermögen wurde zur Hälfte an frühere Arbeiter verpachtet, die Privatfirmen gegründet haben.

Geblieben ist Kosinski vor allem die Wohnsiedlung, in der ein Viertel der Einheimischen wohnt. „Wir erhalten sie von dem, was wir aus den Mieten bekommen. Doch wir haben enorme Mietausfälle, weil die Arbeitslosen kein Geld mehr haben. Wir decken das, indem wir unsere Vorräte aus der letzten Ernte verkaufen. Aber nächstes Jahr wird hier nichts mehr geerntet.“ Was dann wird, darüber macht er sich keine Gedanken, „Wir sind froh, wenn wir den Winter irgendwie überstehen.“ Kosinski ist Staatsangestellter, und wenn Krynki abgewickelt ist, zieht er weiter zum nächsten PGR.

Fabian Ciruk wird bleiben. Vor dreieinhalb Jahren wurde der inzwischen 57jährige Mathematiklehrer zum Bürgermeister der 2.850-Seelen-Gemeinde gewählt. Er versucht, die Arbeitslosigkeit in Krynki durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu bekämpfen. „Laut Arbeitsamt haben wir hier angeblich 499 Arbeitslose, das sind 17,4 Prozent. Aber wir Gemeindemitarbeiter haben selbst noch mal die Haushalte gezählt. In Wirklichkeit sind inzwischen rund 700 Personen ohne Arbeit. Von den 499 sind außerdem 202 Personen schon so lange arbeitslos, daß sie kein Arbeitslosengeld mehr erhalten.“ 150 davon beschäftigt die Gemeinde deshalb beim Brückenbau, bei der Erhaltung der Straßen, beim Reparieren von Gehsteigen.

Jan Wojcik ist Pressesprecher der „Agentur für landwirtschaftliches Eigentum“, die das Elend in Krynki verwaltet. Es ist 9 Uhr morgens, wir sitzen in seinem modernen Büro, in dem es sogar ein Fax und eine elektrische Schreibmaschine gibt. Daneben steht die unvermeidliche Flasche Bier, mit der Wojcik den Tag beginnt. Die Agentur gibt es seit knapp zwei Jahren. Sie arbeitet noch auf Grundlage eines Gesetzes, das davon ausgeht, Polens Staatsgüter könnten verkauft werden. Aber Wojcik weiß es inzwischen besser: „Im Westen, wo die Leute unternehmungslustig und weltoffen sind und die Erde was hergibt, funktioniert das auch“, sagt er. So seien in der Posener Gegend in letzter Zeit einige PGR privatisiert worden, niemand wäre dort entlassen worden. „Die fahren einen Haufen Geld ein. Im Osten dagegen, besonders in der Gegend von Suwalki und Bialystok, müssen wir dazuzahlen“, so Wojcik.

Das veraltete Gesetz sieht vor, daß jeder Verkauf per öffentlicher Ausschreibung zu erfolgen hat. Niemand hatte sich offenbar vorstellen können, daß die polnischen Staatsgüter gar nicht gefragt sind. Wojcik: „Wir drucken für sündhafte Summen riesige Anzeigen in der überregionalen Presse, aber wenn die Versteigerung dann stattfindet, kommt kein einziger Bewerber.“

Aus Angst, böse deutsche Revanchisten könnten ihre ehemaligen Rittergüter zurückkaufen wollen, verbieten Polens Gesetze den Erwerb von Grund und Boden durch Ausländer. In den letzten Jahren hat der Landwirtschaftsminister nur eine einzige Ausnahmegenehmigung erteilt. So werden die untergehenden Güter vom Staat subventioniert.

Was sich in den Regierungsbehörden in der Hauptstadt nur in Zahlen für den Finanzminister niederschlägt, beschwört Tragödien herauf an der polnisch-weißrussischen Grenze, in den Masuren und Karpaten. Im Frühjahr entdeckten Lehrer in den Karpatendorfschulen ausgehungerte Kinder, deren Eltern nicht genug verdienten, um ihnen täglich eine Mahlzeit zu servieren. Das hatte eine Spendenflut in die Dörfer zufolge, sogar ein Konvoi nach Sarajevo wurde in die Karpaten umgeleitet.

Im Nordosten gibt es unterdessen Dörfer mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 40 Prozent. Die Staatsgüter waren dort die größten Arbeitnehmer. Aktivisten der Polnischen Bauernpartei werfen den bisherigen Regierungen vor, die Güter aus „blankem Dogmatismus zugrunde gerichtet zu haben“. Doch die Frage, warum vor 1989 riesige Geldmengen in eine Landwirtschaft mit minderwertigem Boden gesteckt wurden, kann auch Konkursverwalter Kosinski nicht beantworten. Die Erde gebe maximal drei Tonnen Getreide pro Hektar her, in den benachbarten Woiwodschaften seien es bis zu acht Tonnen. Also müßten die Erzeugnisse aus Krynki ein Mehrfaches der üblichen Großhandelspreise kosten, um das PGR am Leben zu erhalten.

An Export ist nicht zu denken. Mit dem billigen, subventioniertem EG-Gemüse kann Krynki nicht konkurrieren. Die neuen Privatfirmen benötigen auf dem Gut nur 60 Arbeiter. Kosinski: „Natürlich hatten wir mit den 350 Mitarbeitern früher zu viele Beschäftigte. Doch zu dem Staatsgut gehörten neben den Wohnblocks auch eigene Autobusse, ein Kindergarten und eine Kantine.“

Polens Bauernpartei, seit kurzem an der Regierung, will bankrotte PGR einfach ihren Angestellten schenken. Kosinski gibt sich optimistisch: „Für den eigenen Unterhalt und ein Taschengeld reiche es allemal. Die Leute haben dann etwas zu tun, saufen nicht und brauchen keine Sozialhilfe.“ Doch in dem Gesetz kommen zwar Versteigerungen, Ratenzahlungen und Pachtverträge vor, von Verschenken ist dagegen nicht die Rede. Als 1991 die Landwirtschaftsreform begann, rechnete kaum jemand damit, daß sie in einer solchen Katastrophe enden könnte.

„Man hätte die PGR privatisieren sollen, bevor die Zinsen in den Himmel stiegen“, sagt Bürgermeister Ciruk. Jetzt sei es zu spät. Die Hoffnung, von der EG Strukturhilfen zu erhalten, hat sich für Krynki zerschlagen. Was bleibt, ist der mögliche Tourismus. Die Gegend gilt als eine der gesündesten Europas: klares Wasser, saubere Erde, reine Luft, Wälder. Manchmal machen auf den Landstraßen deutsche Touristen Radtouren. Und Autoverkehr gibt es kaum, denn die Dorfbewohner haben viel zuwenig Geld für ein eigenes Auto. Ein paarmal am Tag fährt ein Bus zwischen Krynki, Suprasl und Bialystok. Auch im Nachbarort Kruszyniany gibt es eine Sehenswürdigkeit: eine Moschee der tatarischen Minderheit. Krynki verfügt über ein paar Gästezimmer im Kulturzentrum, einen Badesee und eine bekannte Mineralwasserquelle, Dazu gibt es einige Gerbereien und private Lädchen. Bis zur Woiwodschaftsstadt Bialystok sind es 40 Kilometer. Krynkis größte Attraktionen sind die Fußball-, Volleyball- und Schachmeisterschaften, die mit Gemeinden von der anderen Seite der weißrussischen Grenze ausgetragen werden. Ein Viertel der Einwohner von Krynki ist wie viele der Weißrussen orthodoxen Glaubens.

Die Polen nennen ihre östlichen Woiwodschaften, die 150 Jahre zu Rußland gehörten, „die Ostwand“. Ein orthodoxer Priester meint: „Das ist keine Ostwand, das ist eine Klagemauer.“ Auf der Strecke zurück nach Bialystok tauchen immer wieder die Friedhöfe mit den Doppelkreuzen auf den Gräbern auf. Sie scheinen das einzige zu sein, was noch expandiert.

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