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Kaum Entsetzen angesichts der Tatsachen

Im Indizienprozeß gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger von Ohlstedt führt mehr als eine Spur zum Angeklagten / Expertenstreit um angeblich lupenreine Fasergutachten  ■ Von Lisa Schönemann

Wie kann jemand sich an einem Mädchen in roten Leggings vergehen? Oder an einem Kind in bunten Shorts? Das nackte Entsetzen über die der Anklage zugrundeliegenden Tatvorwürfe hat bisher im Prozeß gegen Hans B., der mehrere Mädchen entführt und mißbraucht haben soll, keine Rolle gespielt. Statt dessen geben sich Sachverständige und Zeugen die Klinke in die Hand, die vor Gericht mit aktenschwerem Belastungsmaterial aufwarten.

Da ist die Rede von Faserspuren und Blutflecken, von angeblichen Alibis und der bitteren Tatsache, daß die Ehefrau und der Sohn des Rentners offenbar geahnt haben, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte. Wenn der Prozeß ab dem morgigen Mittwoch nach genau vier Monaten, 23 Verhandlungstagen und mehr als 60 vernommenen Zeugen und Sachverständigen in die entscheidende Phase geht, wird es eng für den 63jährigen gelernten Schiffahrtskaufmann. Eng wie in einer Gefängniszelle.

Seit ihm die Staatsanwaltschaft am ersten Verhandlungstag im April 1996 Vergewaltigung, Entführung und sexuellen Mißbrauch in besonders schweren Fällen vorgeworfen hat, sitzt der Mann aus dem kleinen Dorf Jersbek am nordöstlichen Stadtrand Hamburgs da und schweigt. Er hat dem Gericht lediglich mitgeteilt, er sei nicht derjenige, der von den Medien zum „Kinderschänder von Ohlstedt“ ernannt wurde. Seine gedrungene Statur verstärkt den Eindruck, er wolle sich im Gerichtssaal unsichtbar machen. Wenn die lauernden Kamerateams Glück haben, humpelt er auf einen Stock gestützt in gebügelten Jeans und einem einfachen Baumwollpullover, unter dem ein farbiges Unterhemd durchschimmert, über den Flur zur Verhandlung. Eines der jungen Opfer hat ihn einmal mit Heinz Rühmann verglichen und wollte damit sagen: Er ist alt und hat schütteres Haar.

Ohne sichtbare Regung verfolgt der 63jährige Hobby-Funker die stundenlangen Zeugenauftritte und Erzählungen über das zerstörte Leben der zur Tatzeit neunjährigen Luisa und der elfjährigen Jenny. Zu einem Geständnis konnte er sich bisher nicht durchringen. Laut Anklage soll er Luisa Ende August 1994 in Hamburg-Ohlstedt entführt und in seinem Haus in Jersbek gefangengehalten und mißbraucht haben, bevor er sie nach zwei langen Tagen in einem Waldstück aussetzte.

Nach der Tat träumte die Neunjährige oft von einem Wolf, der sie nachts verfolgte. Dann zog sie sich immer mehr zurück, ließ weder Familienmitglieder noch Freundinnen an sich heran. Luisa ist bis heute in Therapie. Mitschüler haben sie als „vergewaltigte Nutte“ beschimpft. Das hat ihre Mutter im Prozeß berichtet.

Ende April 1995 soll der 63jährige Jersbeker die elfjährige Jenny in Hamburg-Duvenstedt von ihrem Fahrrad gezerrt und sich in seinem Wagen an ihr vergangen haben. Eine Zeugin fand das stark blutende Mädchen, das den Rentner später bei einer Gegenüberstellung im Polizeipräsidium wiedererkannt haben soll, mitten in der Nacht auf der Straße. Außerdem soll der Angeklagte sich 1992 brutal an ein damals 16jähriges Mädchen herangemacht haben, das jedoch aus dem Auto des Täters fliehen konnte.

Die glücklose Sonderkommission der Polizei kam schließlich durch Zufall auf die Spur des Angeklagten, als eine Kripobeamtin auf einem Supermarktparkplatz sein Auto entdeckte. Lackierung, Polsterung und Kennzeichen paßten zu den Angaben, die die Mädchen gemacht hatten.

Für die ersten beiden Anklagepunkte fehlt dem Jersbeker ein Alibi. Bei der Polizei hatte er angegeben, an den fraglichen Abenden mit einer Bekannten zusammen gewesen zu sein. „Er fragte mich, ob ich sagen könnte, daß er den Tag bei mir verbracht habe“, erinnerte sich die Frau, eine 48jährige Taxifahrerin, vor Gericht. „Aber er war nicht bei mir.“ Offenbar hat er ihr – und auch seiner Ehefrau – jedoch von den Blutflecken auf der Rückbank seines Wagens erzählt und jeglichen Zusammenhang mit den Kindervergewaltigungen, von denen damals in allen Medien die Rede war, geleugnet. „Wenn Du es nicht warst, warum hast Du dann Angst?“, will die Taxifahrerin ihn gefragt haben. Darauf soll der 63jährige Mann geantwortet haben: „Ich will nicht ins Gefängnis.“ Im Falle einer Verurteilung läge die Höchststrafe bei 15 Jahren Haft.

Ein Freispruch für den mutmaßlichen Triebtäter wird indes immer unwahrscheinlicher: Die Blutspuren im Fond seines rotbraunen Opel mit den beigen Polstern wurden im Labor des Bundeskriminalamtes analysiert. „Ich habe keinen Zweifel daran, daß das Blut von Jenny stammt“, so die Aussage des Sachverständigen aus Wiesbaden. Auch auf der Jacke des Rentners wurden angetrocknete Blutpartikelchen gefunden, die von Jenny stammen könnten.

Außerdem wurden an der Kleidung der beiden Mädchen später Faserspuren von einer grünen Polyacryldecke entdeckt, wie es sie auch im Haus des Angeklagten gibt. Jennies rote Leggings wiesen beige Mikrofusseln auf, die mit der Polsterung seines Autos identisch sind. Mit Hilfe der Textilkunde lassen sich jedoch keine Aussagen darüber machen, wie viele grüne Decken gleichen Fasertyps es gibt. Der kriminaltechnische Befund „materialidentisch“ zieht die Frage nach dem Beweiswert nach sich. Rein theoretisch können die bei den Opfern gefundenen Faserspuren auch von einem bisher nicht in Verdacht geratenen Dritten stammen oder auch in gar keinem Zusammenhang mit der Straftat stehen.

Auf Anregung der Verteidigung wird morgen erneut eine kriminaltechnische Sachverständige zu der Frage gehört werden, wie viele Stoffpartikelchen überhaupt gefunden wurden. „Fasern können auch angeweht werden“, so Verteidiger Thomas Bliwier. Erst ihre Häufigkeit könne Aufschluß darüber geben, ob es zwischen Opfer und Beschuldigtem zu einem flüchtigen oder intensiveren Kontakt gekommen ist.

Wenn die Große Strafkammer aus der Miniaturwelt von Fasern und Blutspritzern zurückgekehrt ist, werden die Richter entscheiden, ob sich ein Bogen von der Tat zum Täter schlagen läßt.

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