: Der Athlet läuft nicht mit den Augen
„Ich bin Marathonläufer, nur dummerweise blind“, sagt Klaus Meyer. Bei den Paralympics in Atlanta will er Gold – daß sein Sport zum pathologischen Kompensationsversuch umgedeutet wird, will er nicht ■ Von Oliver Kauer
Frankfurt/Main (taz) – Wenn Ulrich Wickert nach dem Wetter abdankt, geht Marathonläufer Klaus Meyer ins Bett. Dann hat er harte Laufkilometer hinter sich und ebenso harte vor sich. Die Vorbereitung auf den nächsten Marathon ist gewissenhaft und professionell. Geruhsamer Schlaf, Blutwertuntersuchungen, ein ausgeklügelter Trainingsplan gehören dazu. Selbst unterschiedliche Getränke werden getestet. Wenn Meyer (38) bei warmem Wetter komplett eingehüllt im engen Trainingsanzug schweißtriefend Richtung Frankfurter Stadtgrenze rennt, wundern sich viele. Zumal der sich peinigende Läufer mit einem anderen durch ein dünnes, gelbes Band am Handgelenk verbunden ist. Das ist nicht sofort zu verstehen, aber zweckgebunden.
Meyer ist als Weltmeisterschafts-Zweiter aussichtsreicher Medaillenkandidat über die Marathondistanz – deshalb die atypische Traininingskleidung, die das Klima von Atlanta simuliert. Klaus Meyer bereitet sich auf die Paralympics vor. Er ist blind – deshalb das Band, mit dem ihm Michael Trott, sein sehender Begleitläufer und Klubkamerad vom Laufverein Spiridon Frankfurt, den richtigen Pfad weist. Von morgen an bis zum 25. August treffen sich in Altanta 3.500 SportlerInnen aus 127 Nationen zum Medaillenwettstreit in 17 Sportarten. Teilnahmebedingungen der Paralympics: Man muß sportliche Leistungen bringen und behindert sein.
225 Deutsche erhoffen sich in Atlanta persönlichen Erfolg, aber auch die öffentliche Honorierung ihrer Leistung. „Wenn's gut läuft, gewinne ich“, sagt Klaus Meyer selbstsicher, „ich bin noch nie so perfekt vorbereitet an einen Marathon herangegangen.“
Das Leistungsniveau im Behindertensport ist stark angestiegen. Längst wird in Olympiastützpunkten und Großvereinen zusammen mit nichtbehinderten Topathleten trainiert. Wenn jemand auf einem Bein über zwei Meter hoch springt, wird auch dem Laien klar, daß es sich um eine absolute Spitzenleistung handelt. Der einarmige Nigerianer Ajebola Adeoye hätte mit seiner 100-Meter-Bestleistung von 10,72 Sekunden nur knapp die olympischen Zwischenläufe verpaßt.
„Setz doch mal die Astrid Kumbernuss in einen Rollstuhl. Die Kugel landet dann auch nur bei 13 Meter“, sagt Meyer. Seine Marathonbestzeit steht bei 2:50:57 Stunden. Inzwischen traut er sich eine Zeit unter 2:45 zu. Als Referent für Öffentlichkeitsarbeit im hessischen Blindenbund voll berufstätig, kann Meyer nur abends trainieren „und nicht vier Trainingseinheiten pro Tag machen wie Uta Pippig“.
Wie vor allen Paralympics fordern die Behindertensportler auch diesmal gebetsmühlenartig mehr mediale Aufmerksamkeit. Zudem wird die Art des Berichtens getadelt. „Die inhaltliche Darstellung des Behindertensports ist häufig noch mit Stereotypen durchsetzt“, sagt Gunther Belitz, Aktivensprecher des Deutschen Behinderten-Sportverbandes (DBS). Nicht die Leistung, sondern die Behinderung werde zu oft in den Vordergrund gerückt.
Empfindlich wird reagiert, wenn selbstverständliche Tugenden des Sports zu pathologischen Mustern umgedeutet werden, wie „zwanghafter Leistungswille, um das Handicap psychisch zu kompensieren“ oder „Triumph über die Behinderung“. „Mir geht's um den Sport, ich bin Marathonläufer, nur dummerweise blind“, bemerkt Klaus Meyer. Er beleuchtet indes auch die andere Seite: Es könne nicht dauernd gerügt werden, die Journalisten seien mies vorbereitet, „sie müssen auch entsprechend versorgt werden. Die Öffentlichkeitsarbeit des DBS ist ein Trauerspiel.“
Nach Barcelona war in der taz zu lesen: „Den Spielen des Kommerzes folgten die Spiele der Gefühle.“ In der Tat waren die Stadien bei freiem Eintritt voll. Die Stimmung übertraf die Erwartungen. Die Paralympics galten als wirkliche Heimstatt der bei Olympia versunkenen Ideale Amateurgeist, Kameradschaft und Fairneß. Ob das alles in Atlanta wieder so sein wird? Die Paralympics sollen da ebenso zum Marketingerfolg werden, zu einer Veranstaltung, die sich selbst trägt.
Den Etat in Höhe von 100 Millionen Dollar finanzieren – trotz gewisser Schwierigkeiten – private Sponsoren. Erstmals müssen alle Besucher Eintritt zahlen. Echt amerikanisch lautet das offizielle Motto: „The triumph of the human spirit“. Was vielen nicht behagt, auch Klaus Meyer nicht. „Das geht wieder in die Richtung – die Leute machen den Sport, um irgendwas zu kompensieren. Und es klingt amimäßig bombastisch. Da wird sehr an Emotionen erinnert. Es wird einem immer unterstellt, daß man ein Problem mit der Behinderung hat. Hab' ich nicht.“
Klischees durchziehen die Betrachtung des Behindertensports. Alle vier Jahre fällt beispielsweise das Wort „Materialschlacht“. Richtig ist: Der Behindertensport hat entscheidend geholfen, funktionelle orthopädische Hilfsmittel zu entwickeln. Wendige und leichte Rollstühle oder anatomisch und biomechanisch verbesserte Prothesen wurden zuerst im Sport eingesetzt und haben später den Reha-Markt erobert. Wer ein Handicap hat, profitiert von Carbon und Titan.
Klaus Meyer ist nur auf ein billiges Hilfsmittel angewiesen, das Band am Handgelenk. Damit wird die Sehkraft des Begleitläufers transformiert. Angebundene Abhängigkeit? Meyer schüttelt den Kopf. „Klar, ich bin auf den Begleitläufer angewiesen, das Band zeigt, daß ich mit ihm zusammen laufen muß. Ich könnte auch nach Gehör nebenherlaufen, aber so brauche ich keine Angst zu haben, über einen Bordstein oder eine Wurzel zu stolpern.“ Er versteht das Band als „symbolische Brücke“, leiht sich vorübergehend Sehkraft und schenkt einem guten Marathonläufer, der indes nie an einen Start bei Olympia denken darf, die Teilnahme am zweitgrößten Sportereignis dieser Welt.
Es ist ein Nehmen und Geben, mit einem 40 Zentimeter langen gelben Band als Fundament. Die reine sportliche Leistung ertrabt Meyer allein. „Ich laufe doch mit den Beinen und nicht mit den Augen“, sagt er. Zudem sei es viel angenehmer, nicht alleine laufen zu müssen, weil kommunikativer. Das Band, „eine Spezialanfertigung“ aus einem alten Schuhbändel, ist übrigens gelb. „Gelb ist halt meine Lieblingsfarbe“, sagt Klaus Meyer.
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