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Ein Kind der Straße

■ Gesichter der Großstadt: Als Jugendliche war Sabine Sturm in einer Mädchengang, jetzt ist sie Weltmeisterin im Stockkampf. Um Selbstverteidigung geht es ihr dabei weniger

Ihre Leidenschaft für Stöcke hat Sabine Sturm als Jugendliche entdeckt. Da war sie in einer Schöneberger Mädchengang und experimentierte mit selbstgebauten Chakos. Bei Kämpfen mit feindlichen Gangs wurden auch schon mal die Messer gezückt, was regelmäßig Ärger mit der Polizei einbrachte.

Heute ist die 31jährige Sportpädagogin ein friedliebender Mensch, und ein Kampf ist für sie eine viel zu persönliche Sache, als ihn mit x-beliebigen Menschen auf der Straße auszutragen. „Mir kommt es weniger auf Selbstverteidigung an, sondern auf Körpergefühl, Entscheidungsfähigkeit, Selbstbewußtsein“, sagt sie nach vielen Jahren Sport und vor allem Kampfsport. Karate, Judo, Kung- Fu, Fußball, Schwimmen, Akrobatik – es gibt kaum etwas, das die durchtrainierte Athletin noch nicht ausprobiert hat. „Sport war eben schon immer mein Bereich“, kommentiert sie knapp und pustet sich die Fransen aus der Stirn.

Zur philippinischen Stockkampfkunst, bei der sie es kürzlich bis zur Weltmeisterin ihrer Gewichtsklasse gebracht hat, kam sie eher unfreiwillig. Ursprünglich wollte sie vor vier Jahren zusammen mit ihrer Trainerin Sabina Streiter ein halbes Jahr in einem Kung Fu-Tempel auf den Philippinen leben, „Ich wollte Kung-Fu- Lehrerin werden und mich darauf vorbereiten“, erzählt sie. 12.000 Mark kostete der Aufenthalt in dem Tempel, doch die Investition in die Zukunft erwies sich als Flop. „Das war so eine Art Sekte mit ganz strengen Regeln.“ Einziger Lichtblick dort war für Sturm das Kennenlernen der philippinischen Stockkampfkunst. „Als ich zum ersten Mal den Stock in der Hand hielt, wußte ich, das gehört zu mir, das geht wie von selber“, sagt sie.

Nach sechs Wochen flogen sie wegen Unstimmigkeiten mit der Gruppe aus dem Tempel, und Sturm und ihre Kumpanin saßen auf der Straße. Obwohl sie kaum noch einen Pfennig besaßen, war ihnen klar: „Wir wollten unbedingt bleiben und trainieren.“ Sie baten bei der benachbarten Stockkampfschule um Aufnahme und durften bleiben. Fünf Stunden Training täglich gehörten von da an zum Alltag, der Kampf mit Rattanstöcken, Holzmessern bis hin zum waffenlosen Kampf faszinierte die Berlinerin.

Ein halbes Jahr später kamen die ersten Erfolge. 1993 wurde Sturm bereits Vizeweltmeisterin, und ihre ehemalige Kung-Fu-Trainerin begann, sie zu managen. Anfangs versuchten sie, Sponsoren für die teuren Flüge und das Training mit den Großmeistern zu finden, „aber das kann man vergessen“. Für Sportartikelfirmen oder Fluggesellschaften war die Investition in eine Frau mit zwei Rattanstöcken schlicht uninteressant.

Aufgeben wollte sie den teuren Sport dennoch nicht, auch wenn der Kampfsport unglaublich kommerziell geworden ist. „Bei Meisterschaften geht es nur noch um Geld und um Prestige“, klagt sie. Deshalb hat sie in diesem Jahr die offiziellen Weltmeisterschaften in Los Angeles boykottiert, „weil sich kein Philippino leisten kann, dort hinzufahren“. Statt dessen pumpte sie sich Geld und flog zu den alternativen Weltmeisterschaften auf die Philippinen. Dort trafen sich die wahren Großmeister des philippinischen Kampfsports, und Sturm trat wieder gegen die gleiche Frau an, gegen die sie vor drei Jahren unterlegen war. Diesmal gewann sie. „Ich habe gemerkt, daß ich viel dazugelernt habe.“

Das gilt auch für ihren persönlichen Lebensweg. „Bei der Stockkampfkunst habe ich gelernt, Entscheidungen zu treffen und auf meine Intuition zu hören“, erzählt sie. Nach Jahren der Bummelei an der Uni, schrieb sie endlich ihre Diplomarbeit – über die „Kritische Analyse des weiblichen Aneignungsprozesses in der asiatischen Kampfkunst“.

Sport in einer von Männern dominierten Welt interessiert die Pädagogin nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht. Seit drei Jahren versucht sie, speziell Frauen für die Stockkampfkunst zu begeistern. Neben ihrem 40-Stunden-Job im Treptower Sportprojekt „Hexenkessel“, gibt sie Frauensportkurse an der Technischen Universität. Für das eigene Training bleibt ihr als Organisatorin der 3. Berliner Mädchen- und Frauensportwoche im Oktober momentan so gut wie keine Zeit mehr.

Dennoch macht ihr der Job als Trainerin Spaß, denn damit kann sie Dinge vermitteln, die weit über den eigentlichen Sport hinausgehen. „Wichtig ist nicht das Kämpfenlernen, sondern daß sich das Körpergefühl verändert und die eigene Wahrnehmung.“ Wer sich stark fühlt, so Sturm, empfinde die Umgebung nicht mehr so schnell als Bedrohung. Erkenntnisse dieser Art sind nicht zuletzt aus den eigenen Erfahrungen in ihrer Kindheit gewachsen. „Da haben wir mit Kämpfen unser Territorium abgesteckt“, die Macht der Stärkeren war allzeit präsent.

Vergessen sind ihre „Jugendsünden“ nicht, das liegt allein schon an den selbstgemachten Tätowierungen auf den Fingern und an der Lage ihrer Wohnung. Nach wie vor lebt sie in Schöneberg, und die Turnhalle, in der sie Studentinnen trainiert, liegt keinen Kilometer entfernt von dem Ort, wo sich ihre Gang früher Schlachten lieferte. Christine Berger

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