■ Vor 50 Jahren fiel das Urteil in den Nürnberger Prozessen: Die Mär von der Siegerjustiz
Kein „kurzer Prozeß“, sondern zehn Monate der historisch-politischen Aufklärung am Beispiel der übriggebliebenen Spitzen eines monströsen Regimes: Das hatte es noch nicht gegeben. Mit Schuldsprüchen unter anderem wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ging heute vor fünfzig Jahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg ein völkerrechtliches Experiment zu Ende, das freilich lange umstritten blieb.
Am schwersten taten sich damit die Deutschen. Das noch von Goebbels' Durchhaltepropaganda in die Welt gesetzte Vorurteil, den Amerikanern, Briten und Sowjets gehe es um gemeine Abrechnung mit dem am Boden liegenden Kriegsverlierer, begleitete den Prozeß seit seinem ersten Tag. Zwar gelang es den Besatzungsmächten, ihr Projekt der justitiellen Ahndung von Kriegs- und NS-Verbrechen durch eine forcierte Berichterstattung kurzzeitig zu polarisieren. Aber als deutlich wurde, daß sich die Bestrafungsabsicht nicht auf zwei Dutzend „Hauptkriegsverbrecher“ und ein paar hundert KZ-Schergen beschränkte, war schnell von „Siegerjustiz“ die Rede. Anfang der fünfziger Jahre hielt fast ein Drittel der Deutschen „Nürnberg“ für ungerecht. Auf den härtesten Widerspruch stiegen die Nachfolgeprozesse der Amerikaner gegen ausgewählte Repräsentanten der in die Vernichtungspolitik und die Ausbeutung von Zwangsarbeitern verstrickten militärischen, wirtschaftlichen und bürokratischen Eliten. Im Zeichen des kalten Krieges gaben die Westmächte den Forderungen einer Bonner Allparteienkoalition in Sachen Vergangenheitspolitik schließlich nach. Eine Welle der Amnestie ging durch das Land. 1958 kamen die letzten „Kriegsverurteilten“ frei, darunter drei ursprünglich zum Tode verurteilte Einsatzgruppenführer. Hätten die Interessen der Sowjets dem nicht entgegengestanden, wären damals wohl sogar die Spandauer „Hauptkriegsverbrecher“ entlassen worden.
Der Weg bis zur Anerkennung des im Schatten des Holocaust fortgebildeten Völkerrechts war hierzulande besonders lang. Um so mehr ist Deutschland heute gefordert, wenn es – wie jetzt in Den Haag – darum geht, im Blick auf Ex-Jugoslawien den Prinzipien von „Nürnberg“ Geltung zu verschaffen. Norbert Frei
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen