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Im Zweifel für die Sicherheit

Kritik am Hertener Widerstand gegen die geplante Klinik für psychisch kranke Straftäter. Das benachbarte Eickelborn muß entlastet werden, finden die Eltern der ermordeten Anna-Maria Eberth  ■ Von Walter Jakobs

Sie nutzen weiterhin jeden Anlaß zum Protest. In der vergangenen Woche war es die Düsseldorfer Landtagsanhörung zum Maßregelvollzug, die gut 200 Menschen aus Herten vor den Landtagstoren demonstrieren ließ. „Wer denkt an die Opfer?“ hieß es diesmal auf den Transparenten der Bürgerinitiative, die den Hertener Massenprotest gegen die geplante neue Klinik für psychisch kranke Straftäter organisiert.

Maria Eberth versteht die Hertener Ängste nur zu gut. Ihre Tochter Anna-Maria zählt zu den Opfern – vergewaltigt und ermordet von dem Eickelborner Patienten Dirk S. Der damals 26jährige nutzte einen unbegleiteten Freigang am 22. September 1994, um keine 200 Meter vom Elternhaus entfernt in einem kleinen Waldstück in Eickelborn über das siebenjährige Mädchen herzufallen. Aufgewachsen ist Dirk S. in Recklinghausen, in unmittelbarer Nähe der Nachbarstadt Herten. Gut 40 Prozent der Eickelborner Patienten stammen aus der Ruhrregion. „An dem Tag, als meine Tochter ermordet wurde, sind 60 Leute aus der geschlossenen Klinik als Freigänger hier bei uns im Ort rumgelaufen“, erinnert sich die 41jährige Realschullehrerin an den schicksalhaften Tag. Für Maria Eberth steht fest, „daß Eickelborn eine Entlastung braucht, denn eine solche Riesenklinik kann dieses Dorf mit seinen 2.000 Einwohnern einfach nicht mehr verkraften“.

Das sehen alle renommierten Forensik-Fachleute ähnlich. Mehr als 90 Patienten, so lautet etwa die Empfehlung einer von den NRW- Behörden einberufenen Expertenkommission, sollten entsprechende Einrichtungen nicht haben. In Eickelborn sind es fast viermal so viele Menschen, die zum größten Teil schwerste Sexual- und Gewaltverbrechen begangen haben und wegen Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurden. Eine „Belastung“, die, so Maria Eberth, schon längst danach schreie, „auf mehrere Schultern verteilt“ zu werden. Auch Herten könne sich da nicht prinzipiell verweigern. Zusammen mit ihrem Mann Klaus nutzt die 41jährige die gesteigerte Aufmerksamkeit in diesen Tagen, um für einen „vernünftigen Umgang“ mit dieser Tätergruppe zu werben. „Im Zweifel für die Sicherheit“, lautet dabei das Credo des Ehepaars, das zu den reaktionären Kopf-ab- Apologeten ebenso Distanz wahrt, wie zu jenen „Therapeuten, die Allmachtsphantasien anhängen und jeden Täter für therapierbar halten“. Die Eheleute hoffen, „daß jetzt endlich die Politiker wach werden und das getan wird, was zur Risikominderung möglich ist“. Sie selbst wollen nicht mehr länger warten. Das Haus ist schon verkauft. Der Umzug steht bevor. Es ist nicht nur die Sorge um ihre beiden verbliebenen, noch nicht schulpflichtigen Kinder, die sie wegtreibt. Vor allem Maria Eberth hofft darauf, daß eine neue Umgebung den Schmerz über den Verlust ihres Kindes zu lindern hilft. Bei „optimalen Bedingungen würde ich gern hier bleiben“, sagt dagegen Klaus Eberth, aber „ich habe in diese Klinikleitung und in den die Klinik tragenden Landschaftsverband Westfalen-Lippe kein Vertrauen mehr“.

„Optimale Bedingungen?“ Dazu gehört für den EDV-Fachmann eine radikale Verkleinerung der Klinik ebenso wie die Sicherstellung kompetenter Therapien und Begutachtungen durch erfahrene Therapeuten. Die Eltern sind davon überzeugt, daß ihre Tochter noch leben könnte, wenn die Klinikärzte sorfältiger gearbeitet und behutsamer mit Vollzugslockerungen umgegangen wären. Für den Mörder ihrer Tochter, dessen „Aggressionskurve“ nach jeder Tat gestiegen sei, habe man den Freigang „geradezu durchgepeitscht“ – und zwar „durch Ärzte, die ihn nur sehr oberflächlich kannten und teilweise nur nach Aktenlage entschieden haben“, sagen die Eberths. Sie hoffen, daß die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Klinkleitung „doch noch zur Anklage führen“.

Viele Prognosegutachten im Vorfeld von Vollzugslockerungen sind nach Expertenaussagen tatsächlich von erschreckender Qualität. Jedes zweite von 100 überprüften Gutachten, so berichtete die Diplom-Psychologin Sabine Nowara vom Essener Institut für Forensische Psychiatrie während der Düsseldorfer Anhörung, habe nicht den fachlichen Anforderungen entsprochen.

Auch in Eickelborn waren risikoreiche Vollzugslockerungen an der Tagesordnung. Das geht aus einer Untersuchung hervor, die der Essener Institutsleiter Professor Nobert Leygraf im Auftrag des Landschaftsverbandes nach der Ermordung von Anna-Maria durchführte. Nur 38,5 Prozent der Vollzugslockerungen bei „Tötungsdelikten mit sexueller Motivation“ hielt Leygraf in seinem Gutachten für angemessen. In 46,2 Prozent der Fälle plädierte der Essener Forensiker für die Zurücknahme, in weiteren 15,4 Prozent für die Einschränkung gewährter Vollzugslockerungen.

Mit Blick auf den geplanten Hertener Klinkneubau fordern die Eberths deshalb einen „Klinikbeirat mit klaren Mitsprache- und Informationsrechten“. Die Hertener sollten sich dabei nicht auf ein „Alibigremium“ einlassen, sondern in Verhandlungen mit dem Landschaftsverband „feste Regeln“ vereinbaren. Sichergestellt werden müsse auch, daß die Therapeuten „mit ihren Familien im Ort wohnen und damit dasselbe Risiko tragen wie die übliche Bevölkerung auch“, fordert Maria Eberth. Sie selbst meldet sich immer wieder zu Wort, weil sie verhindern will, daß „die Probleme totgeschwiegen werden“. Wie nach dem Mord an einem 13jährigen Mädchen durch einen Eickelborn-Patienten im Jahre 1990. Damals sei das Thema schon nach kurzer Zeit aus der Öffentlichkeit verschwunden und alle Politiker seien umgehend wieder in den alten Trott verfallen.

Daß die Therapie von Forensikpatienten, für die beide Eheleute weiter nachhaltig eintreten, immer eine „ganz schwierige Gratwanderung bleibt“, weiß auch Maria Eberth, aber sie ist empört darüber, daß jede Fehlprognose von den Verantwortlichen „sogleich als unvermeidliches Restrisiko dargestellt wird“. Tatsächlich diene das „Gerede vom Restrisiko im Alltag aber oft nur dem Ziel, die eigenen Schlampereien zuzudecken und vom eigenen Versagen abzulenken“. Dagegen will sie weiter ihre Stimme erheben. Möglicherweise bald im Rahmen einer Initiative von weiteren LeidensgenossInnen. Nicht, um mit anderen Eltern öffentlich die Wunden zu lecken, sondern um mitzuhelfen, „solche Taten in Zukunft zu verhindern“.

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