■ Das angebliche RAF-Mitglied Christoph Seidler will sich heute den Ermittlungsbehörden in Karlsruhe stellen. Gegen ihn präsentiert die Bundesanwaltschaft mit Siegfried Nonne einen dubiosen Kronzeugen. Er widerrief mehrfach seine Aussagen: S
Das angebliche RAF-Mitglied Christoph Seidler will sich heute den Ermittlungsbehörden in Karlsruhe stellen. Gegen ihn präsentiert die Bundesanwaltschaft mit Siegfried Nonne einen dubiosen Kronzeugen. Er widerrief mehrfach seine Aussagen
Showdown in Karlsruhe
Ende Juli 1991 fiel der angebliche „Top-Terrorist“ Christoph Eduard Seidler um ein Haar aus dem Fahndungsraster der Strafverfolgungsbehörden. Sechs Jahre zuvor hatte sich seine Spur – wie es schien, endgültig – verloren. Weil den Oberanklägern der Bundesanwaltschaft inzwischen schwante, daß Seidler längst nicht mehr zur Truppe gehörte, ihr möglicherweise nie angehört hatte, wiesen sie das Bundeskriminalamt in Wiesbaden an, „den Beschuldigten beim nächsten Fahndungsplakat zu streichen“. So nachzulesen in einem BKA-Vermerk (TE 11 – 110011/85) vom 30. Juli 1991.
Der Verdacht, Seidler habe sich der Rote Armee Fraktion (RAF) angeschlossen, gründete Mitte der achtziger Jahre auf zwei Indizien: Ende 1984 verschwand er, im Vorfeld eines Hungerstreiks der RAF- Gefangenen, spurlos aus der militanten Linksszene in Frankfurt. Im Herbst 1985 entdeckten die Fahnder seinen Fingerabdruck auf einer Zeitung in einer angeblich auch von RAF-Mitgliedern genutzten Wohnung in Tübingen.
Genau in jenen Tagen, als die Karlsruher Bundesanwaltschaft Seidler zur Randfigur der RAF- Szene degradieren wollte, sprach beim hessischen Verfassungsschutz ein alter Bekannter vor. Siegfried Nonne, genannt „Siggi“. Der Mann, in früheren Jahren Spitzel der Wiesbadener Schlapphüte in der linksmilitanten Szene, galt längst als Sozialfall. Er war alkoholkrank, drogenabhängig, depressiv und geltungssüchtig. 1986 hatten ihn die Wiesbadener Geheimen „abgeschaltet“. Nun machte er Christoph Seidler zum kaltblütigen Mörder.
Nicht zum ersten Mal mühte sich Nonne in diesen Sommertagen, den Kontakt zu seinen früheren Betreuern wieder aufleben zu lassen. Zuletzt hatte er sich in der Behörde gemeldet, nachdem ein „Kommando Wolfgang Beer“ der RAF am 30. November 1989 in Bad Homburg den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, zu Tode gebombt und seinen Chauffeur schwer verletzt hatte. Am Telefon erzählte Nonne, reichlich wirr, er könne Hinweise auf die Täter geben. Seine früheren Betreuer waren sich schnell einig: Siggi Nonne befand sich nach wie vor in jener bedauernswerten Verfassung, die 1986 zu seiner Ausmusterung geführt hatte. Wohl mehr, um sich kein Versäumnis zuschulden kommen zu lassen, überwachten die Hessen „den Siggi“ ein paar Tage lang rund um die Uhr. Ergebnis: Dem früheren Zuträger ging es schlecht, Kontakte zur linken Szene oder gar zur RAF waren nicht erkennbar.
Wie schlecht es dem ehemaligen V-Mann ging, stellte sich bald heraus. Anfang 1990 setzte Nonne seine Wohnung im Bad Homburg in Brand, stieg in den Zug nach Frankfurt, um dort ein paar Bier zu bechern, und stellte sich anschließend der Polizei. Ausgestattet mit dem Prädikat „eingeschränkt schuldfähig“ verschwand er zunächst in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik.
Im Juli 1991 also klopfte Nonne erneut beim hessischen Verfassungsschutz an – mit einer in der Tat aufregenden Geschichte. Er habe, gab der Zeuge zu Protokoll, seine in Tatortnähe gelegene Wohnung den Herrhausen-Attentätern vor dem 30. November 1989 wochenlang als Basislager zur Verfügung gestellt. Auch sonst sei er dem RAF-Kommando bei der Vorbereitung des Anschlags mit allerlei Handreichungen behilflich gewesen. Zwei der vier Attentäter seien ihm aus gemeinsamen Tagen in der Frankfurter Linksszene gut bekannt: Andrea Klump und Christoph Seidler. Nun treibe ihn „Gewissensnot“ zum Geständnis.
Nach seinem Bekenntnis nahmen erst die hessischen Hüter der Verfassung, dann die Elitefahnder des Bundeskriminalamts, schließlich die Karlsruher Oberankläger den „schwierigen Zeugen“ in die Mangel. Je länger sie den Mann traktierten, desto übermächtiger wurde offenbar der Wunsch, ihm zu glauben. Nicht nur Liebe macht blind, auch Erfolgsdruck. Der Mord an dem Bankchef lag bald zwei Jahre zurück. Es gab keinen Hinweis auf die Täter. Es gab nur Nonne – aber auch die Gewißheit, daß er als Zeuge der Anklage vor keinem Provinzanwalt würde bestehen können.
Während des Vernehmungsmarathons hielt ein beeindruckender Medikamentencocktail „den Siggi“ einigermaßen im psychischen Gleichgewicht. Ausweislich der Protokolle wurden Nonne während der Vernehmungsphasen insgesamt neun verschiedene Medikamente – Antidepressiva, Neuroleptika und Antiepileptika – verabreicht.
Geholfen hat es wenig. Nonnes angebliche Erinnerungen sprudelten und sprudelten. Für Widersprüche in seinen Aussagen, die die Ermittler 1992 in einer neun Seiten umfassenden „Synopse“ auflisteten, machte der Zeuge sein schlechtes Gedächtnis verantwortlich – und schlug den vernehmenden Beamten immer mal wieder vor, ihn unter Hypnose zu setzen. Aussetzer wie diese wollten die Ermittler nicht zur Kenntnis nehmen. Als dann noch das Bundeskriminalamt behauptete, im Keller von Nonnes Bad Homburger Wohnung habe man Sprengstoffspuren gefunden, die dem großen Bumms im nur wenige hundert Meter entfernten Seedammweg zugeordnet werden könnten, als schließlich auch der hochangesehene Kölner Psychologe Udo Undeutsch Nonnes Erzähltalent erlag und den Kern seiner Aussagen für glaubwürdig erklärte, gab es kein Halten mehr.
Ende Januar 1992 feierten der hessische Innenminister Herbert Günther (SPD) und Generalbundesanwalt Alexander von Stahl öffentlich ihren „großartigen Fahndungserfolg“. Seidler und Klump galten schlagartig als neue Köpfe der RAF. Der Katzenjammer ließ nicht lange auf sich warten – und wurde chronisch. Mit der freiwilligen Rückkehr Christoph Seidlers steht jetzt die größte Blamage bevor, die die Strafverfolgungsbehörden bei ihrem Kampf gegen die RAF je zu verkraften hatten.
Das Sprengstoffgutachten des Bundeskriminalamts erwies sich schon bald als windiges Machwerk auf der Basis minimaler Anhaftungen auf einem Pappschnipsel. „Die Spuren waren so gering“, räumt ein damals beteiligter Experte aus der BKA-Kriminaltechnik heute ein, „da wußte niemand, ob irgend jemand draufgetreten hatte auf die Pappe oder ob das im Labor in der Luft lag.“ Die vorherrschende Meinung im Apparat sei schon damals gewesen: „Nonne spinnt.“
Die RAF meldete sich aus dem Untergrund, die Geschichte des angeblichen Kronzeugen sei von „Anfang bis Ende erstunken und erlogen“, gegenüber Besuchern versicherte auch die seit 1986 inhaftierte frühere RAF-Aktivistin Eva Haule, Seidler und Klump könnten keinesfalls dabeigewesen sein, weil beide nicht zur RAF gehörten.
Anfang Juli 1992 schließlich löste Nonne selbst den Super-GAU aus: Zur besten Sendezeit bekannte er in einem „ARD-Brennpunkt“, er habe seine Geschichte von A bis Z zusammengedichtet – und zwar auf Geheiß und unter wüsten Drohungen von Beamten des hessischen Verfassungsschutzes. Im März 1996 – da bereitete Christoph Seidler mit Unterstützung des Verfassungsschutzbeamten „Hans Benz“ längst seine Relegalisierung vor – kippte Nonne noch einmal. Der Mann, der in einer „betreuten Wohngemeinschaft“ lebt und zur Zeit stationär in einem Krankenhaus behandelt wird, widerrief vor den Staatsanwälten der Bundesanwaltschaft seinen Widerruf im TV. Tatsächlich habe sich alles so abgespielt, wie ursprünglich berichtet. Für die Bundesanwaltschaft war „der Siggi“ fortan wieder ein glaubwürdiger Zeuge.
Glaubwürdiger jedenfalls als jene Leute, die teilweise im Libanon, teilweise bei den Karlsruher Anklägern berichteten, Seidler habe sich von 1988 bis 1992 im Libanon aufgehalten und das Land in dieser Zeit nie, auch nicht im November 1989, verlassen. Glaubwürdiger auch als der Verfassungsschützer „Benz“, der nach der Befragung zahlreicher Zeugen und nach über einem halben Dutzend Treffen mit Seidler fest von dessen Unschuld überzeugt ist. Sollte der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof heute oder in den nächsten Tagen den Haftbefehl, wie von Seidler beantragt, aufheben, wird die Bundesanwaltschaft vermutlich Beschwerde beim Bundesgerichtshof einlegen. Dann müßte der 3. Strafsenat beim Bundesgerichtshof entscheiden. Mindestens solange bliebe Seidler im Bau. Gerd Rosenkranz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen