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Nur die Wellblechdächer scheppern

Eine ehemalige Salpetermine in Nordchile diente den Militärs als Gefangenenlager. Die Ruinen verfallen, die Leichen mumifizieren. Jetzt soll auf dem Gelände eine Gedenkstätte eingerichtet werden  ■ Aus Chacabuco Jens Holst

Schnurgerade zieht das schwarze Asphaltband der Panamericana durch die Atacama-Wüste. Rechts und links der Straße umgepflügte schmutzig-gelbe Erde, so weit das Auge reicht. In der Ferne ragt ein schlanker Schornstein in die Höhe. Beim Näherkommen sind verrostete Fabrikanlagen und verfallene Häuser zu erkennen. Auf Höhe der ersten Gebäude, deren Außenwände fast an die Fernstraße heranreichen, weist ein weiß-blaues Hinweisschild auf einen unscheinbaren Feldweg: „Chacabuco – Ex- oficina salitrera“, ehemalige Salpetermine.

Noch 200 Meter Staubpiste, dann versperrt eine Schranke den Weg. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staubwirbel fegen um die Wände verfallener Gebäude. Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.

Ein achteckiges Holzpodest läßt die freie Fläche als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen Bögen und Ecktürmen. Die nahegelegenen Häuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Auf einem anderen Platz liegen verstreut die rostigen Überreste einer Dampfmaschine. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes scheinen nicht von dieser Welt zu sein. Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldóvar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe- Instituts in Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Seit sechseinhalb Jahren bemüht sich die deutsche Kulturvertretung, Chacabuco vor dem Schicksal der anderen oficinas zu bewahren und als Gedenkstätte wieder aufzubauen.

Vom Winde verweht sind die allermeisten der ehemals über 100 Salpeterminen, von denen allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten übriggeblieben sind. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist.

Dabei macht die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte BewohnerInnen der Atacama-Wüste die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Toten der Salpeterstädte. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von der Wüste derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles Norden reiste. „Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte“, erinnert er sich. Die Idee einer Gedenkstätte Chacabuco war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage. Hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Schließlich steht dieser Ort nicht nur symbolisch für die ruhmreiche Salpetergeschichte, sondern in besonderem Maße auch für die Arbeiterbewegung und die politische Unterdrückung in Chile.

Die Salpetergeschichte ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die sich überwiegend als TagelöhnerInnen verdingten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen BesitzerIn war vollkommen: Der Lohn wurde in einer Art Lagergeld ausgezahlt, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden ausgegeben werden konnte. Dort war alles überteuert, unabhängige HändlerInnen ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit seine werkseigene Unterkunft. Die UnternehmerInnen in der Pampa bekämpften jeden Versuch der ArbeiterInnen, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch die entstehenden Gewerkschaften. Ging der Salpeterabsatz zurück, mußten viele Arbeiter auf ihre Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn arbeiten. Die Schwerstarbeit in der Wüste, tagsüber unter sengender Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn brachte einem Salpeterarbeiter 1.838 Pesos im Jahr ein – damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie keine zwei Tage aus.

Um es ihren UnternehmerkollegInnen aus Europa gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen nach Paris oder London. Auf 20.000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Die nordchilenischen Provinzen Atacama und Tarapac waren wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den Ländereien im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die britischen, chilenischen und später auch die deutschen WerksbesitzerInnen zum Domizil. Sie lebten in großzügigen und luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten „Spanischen Club“.

Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den LohnarbeiterInnen konnte kaum eklatanter sein. Durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der ArbeitgeberInnen erste größere Gewerkschaften, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei Lateinamerikas hervorgehen sollte. Die Zahl der Streiks häufte sich Anfang des Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meist schlug er sich jedoch auf die Seite der UnternehmerInnen. Immer wieder kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Polizisten. Traurige Berühmtheit erlangte das Massaker von Santa Maria de Iquique. Bei eimem Militäreinsatz gegen einen friedlichen Massenstreik wurden 1907 in der nordchilenischen Hafenstadt mehrere Tausend Arbeiter und ihre Familien erschossen.

Als der Salpeterboom längst vorüber war, wollte die sozialistische Unidad-Popular-Regierung die Erinnerung an die politische Verfolgung der SalpeterarbeiterInnen und an ihrem Beitrag zur politischen Entwicklung Chiles wach halten. 1971 stellte sie Chacabuco unter Denkmalschutz. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, ahnte damals nicht, daß er nur zwei Jahre später als Häftling nach Chacabuco zurückkehren sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft. Nach dem Putsch vom 11. September 1973 hatte die Pinochet-Diktatur die verlassene Salpeterstadt in ihr größtes Gefangenenlager verwandelt. Über 3.000 politische Gefangene pferchte sie hier teils monatelang ein.

„Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät“, erklärt Roberto Zaldóvar, der Wärter der Gedenkstätte. Doch damit hat das Goethe-Institut ein heißes Eisen angefaßt. Fast sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren Vergangenheit Chiles. Der Nachfolger von Projektinitiator Strauß, Michael de la Fontaine, hat seine Werbung der Stimmung angepaßt. „Ich verkaufe in den letzten Jahren auch in höchsten Kreisen Chacabuco als Beispiel der Industriegeschichte“, erklärt er. „Ein solches schillerndes historisches Denkmal muß in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden: als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.“

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Das deutsche Engagement hing immer stark vom jeweiligen Botschafter ab. Michael de la Fontaine verweist zwar auf die 200.000 Mark, die das Auswärtige Amt für die Restaurierung von Theater und Philharmonie bereitgestellt hat. Doch der derzeitige Botschafter, Werner Reichenbaum, konterkariert die Ideen der BetreiberInnen. In seinem Grußwort zum Goethe-Buch „Chacabuco – Stimmen in der Wüste“ hebt er die Bedeutung als Industriedenkmal hervor, aber das Gefangenenlager erwähnt er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago ihrer Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied sie immer kritische Töne gegenüber der Militärjunta um General Pinochet. Jahrelang unterhielt sie engste Beziehungen zur umstrittenen deutschen „Colonia Dignidad“, die dem militärischen Geheimdienst als Folterzentrum diente, und noch bis 1990 hing im Eingangsraum der deutschen Botschaft eine Karte vom Deutschen Reich in den Grenzen von 1937.

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