: Kein Mädchen blieb verschont
Hunderttausende ZivilistInnen wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee als „lebende Reparationen“ verschleppt. Die meisten dieser Kriegsopfer waren Frauen ■ Von Ulrike Helwerth
Am Tag, als ich dieses Buch bekam, sorgte ein „Sexskandal“ innerhalb der U.S. Army gerade international für Schlagzeilen. Rekrutinnen hatten Ausbilder wegen Vergewaltigungen und Morddrohungen angezeigt. Eine Umfrage unter Soldatinnen ergab: Jede zehnte ist schon einmal Opfer sexueller Gewalt oder Übergriffe von seiten von Vorgesetzten und Kollegen geworden.
Soldaten sind nicht nur Mörder, sondern auch Vergewaltiger. An diese Tatsache haben uns die jüngsten Kriege inzwischen massenmedienhaft gewöhnt. Als Ende der 80er Jahre westdeutsche Feministinnen dokumentierten, was in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs in Berlin und anderswo geschehen war, kam das noch einem Tabubruch gleich. Nur mühsam kehrten die Erinnerungen an das zurück, was damals massenhaft und vor aller Augen und Ohren passierte: die systematische Vergewaltigung von Frauen aller Altersgruppen durch Angehörige der sowjetischen Armee. Oder, genauer gesagt: die Opfer, die bis dahin schamhaft geschwiegen hatten, erinnerten sich. Plötzlich fanden sie Gehör bei Töchtern und Enkelinnen, die jahrzehntelang, und sei es nur heimlich, das kollektive Kriegstrauma ihrer Mütter und Großmütter als mehr oder weniger gerechte „Strafe für Auschwitz“ erachtet oder gar als antikommunistische Propaganda abgetan hatten (wie übrigens früher auch die Realität des sowjetischen Gulag). Nicht von ungefähr fiel dieser Tabubruch ab 1990, als die einstigen „Befreier“ aus Ostdeutschland verschwanden.
Mit Vergewaltigungen allein war für viele Frauen in Deutschland der Krieg aber noch lange nicht „gesühnt“. Tausende ZivilistInnen aus den deutschen Gebieten östlich der Oder und Neiße, aber auch aus Südosteuropa wurden von der vorrückenden Roten Armee in den Monaten vor Kriegsende zusammengetrieben und in sowjetische Arbeitslager deportiert. Den größten Teil dieser Kriegsbeute machten Frauen aus. Noch 1989 leugnete die sowjetische Führung diese Massenverschleppungen, sprach Gorbatschow von einer „böswilligen Erfindung des Westens“. Heute streitet man über Zahlen: 200.000, 300.000 bis zu einer halben Million Menschen sollen vom sowjetischen Geheimdienst NKWD als „lebende Reparationen“ kassiert worden sein. Bis heute gelten 42.000 ZivilistInnen aus diesen Regionen als vermißt.
Bereits zum Jahreswechsel 1944/45 hatte der NKWD den Geheimbefehl erhalten, alle arbeitsfähigen Deutschen aus den befreiten Gebieten Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei, „Männer von 17 bis 45, Frauen von 18 bis 30 – für die Arbeit in der UdSSR zu mobilisieren und zu internieren“. Auf der Jalta-Konferenz der Alliierten im Februar 1945 brachte Stalin bei der Verhandlung von Reparationsforderungen das Thema „Verwendung deutscher Arbeitskräfte“ dann auf die Tagesordnung. Es blieb ohne Ergebnis. Stalin ließ weitere Tatsachen schaffen, während die Westalliierten nach bewährter Manier wegschauten. Der neue Geheimbefehl für den NKWD lautet jetzt aber, „alle zur physischen Arbeit und zum Waffentragen fähigen Deutschen – Männer im Alter von siebzehn bis fünfzig“ aus dem von der Roten Armee besetzten Oberschlesien und Ostpreußen festzusetzen. Mit „dem Ziel der Verhütung von Versuchen terroristischer Aktionen und der Durchführung von Diversionstätigkeit seitens der Deutschen, die vom deutschen Kommando im Hinterland der vorstoßenden Truppen der Roten Armee zurückgelassen wurden“. Doch konnte von Widerstand oder „Diversionstätigkeiten“ im Frühjahr 1945 nicht mehr die Rede sein. Die Wehrmacht hatte die Ostfront längst geräumt und riesige Flüchtlingsströme hinter sich und sich selbst überlassen. Die sowjetische Armee fand keine kräftigen, waffenfähigen oder gar bewaffneten Männer mehr vor, sondern Kranke, Greise, Kinder und Frauen jeden Alters. Man nahm mit, was es gab.
In „Verschleppt bis ans Ende der Welt“ erzählen elf Frauen stellvertretend die Geschichte dieser Massendeportation, die bis heute kaum Beachtung gefunden hat. Die jüngste ist 4, die älteste 24 Jahre, als ihre Odyssee beginnt. Am Anfang des Alptraums stehen Vergewaltigungen, kaum ein Mädchen bleibt davon verschont. Es folgt die Internierung in Sammellagern und dann der Transport in die Sowjetunion – wochen-, monatelange Reisen in Viehwaggons bis ans Ende der Welt. Eine kaum vorstellbare Zahl von Güterzügen muß damals kreuz und quer durch Europa unterwegs gewesen sein, beladen mit menschlichem Schlachtvieh, mit Arbeitsvieh. Der Viehwaggon als Symbol der massenvernichtenden Menschenverachtung der Moderne.
Für die Überlebenden endet die Reise irgendwo in der kasachischen Steppe, in den karelischen Wäldern, in der Weite Sibiriens. Eine damals 16jährige Russin, die mit ihren Eltern im Bergbaugebiet Stalinsk lebt, erinnert sich an die Ankunft eines Transports im April 1945: „Wir staunten nicht schlecht, als da plötzlich Frauen drin waren. Daß Männer in Kriegsgefangenschaft kamen, das war ja irgendwie „normal“ – aber Frauen? Und sie waren ja noch so jung! Es wurde nicht gesagt, wer sie waren oder woher sie kamen, sondern nur: „gefangene Deutsche“. Da fiel uns nichts anderes ein als: „Das sind auch Leute von der Front, vielleicht Krankenschwestern oder so was! Bei uns gab es ja auch Frauen an der Front. Wir wären nie auf den Gedanken gekommen, daß es sich hier um zivile Bevölkerung handelt.“
Es waren vor allem Frauen, die damals in den sowjetischen Arbeitslagern eintrafen. Dort schufteten sie in den Wäldern, in Bergwerken, auf Kolchosen, bei miserabler Ernährung und unerträglicher Kälte. Wir kennen solche Berichte aus dem Gulag. Viele, ein Drittel etwa, verloren den Kampf gegen das Verrecken. Für manche endete das Sklavinnentum nach drei, vier Jahren, für andere erst nach zehn Jahren und mehr. Die jüngste der Erzählerinnen ist 16, als sie mit Mutter und Tante 1957 zurück nach Deutschland darf. Zwölf Jahre hat sie mit ihnen in einem Dorf von Verbannten irgendwo in Kasachstan verbracht: „Ich kannte gar nichts anderes als Gefangenschaft.“
Mit der Entlassung in die „Heimat“ ist das Drama nicht beendet. Denn die Heimat existiert nicht mehr. Die RückkehrerInnen landen bei den Überlebenden ihrer Familien, in Ost- oder Westdeutschland, in der DDR oder in der BRD. Im Osten sind ihre Erlebnisse tabu, den sie passen nicht in das Bild vom großen Waffen- und Klassenbruder Sowjetunion. Eine Entschädigung verbietet sich von selbst. Im Westen ist die Ablehnung weniger eine Frage der Ideologie denn der Mitmenschlichkeit. Angehörige, Bekannte halten die Berichte für übertrieben oder ihr eigenes Kriegsleid dagegen. Wir erfahren von Entschädigungssummen in Höhe von 1.380 Mark und weniger. Dann breitet sich der Mantel des Schweigens auch dort aus.
Apropos Entschädigung: Schade, daß die Autorin Freya Klier, die sonst mit Fakten und Hintergrundinformationen nicht geizt, diesem Thema kein abschließendes Kapitel widmet, sondern es in einem lapidaren Nachwort abhandelt. Dabei haben die meisten der Deportierten hinreichende und grausame Erfahrungen mit den Mühlen deutscher Nachkriegsbürokratie gemacht. Und Freya Klier selbst hat sich immer wieder bemüht, öffentlich auf das Unrecht hinzuweisen, das den Betroffenen ein zweites Mal dadurch angetan wurde, daß man ihnen jeden Anspruch auf Entschädigung verweigerte. Keine der Erzählerinnen hat je einen Pfennig (mehr) gesehen. Die Frauen aus der DDR begannen nach der „Wende“ zu hoffen, auf Kriegsopferrente oder eine andere Art von Unterstützung. Aber das „Kriegsfolgebereinigungsgesetz“ (!!!), in dem auch Inhaftierte und Deportierte aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Berücksichtigung finden sollten, wurde Ende 1992 im Bundestag gekappt – unter Mitwirkung aller Parteien. Seither scheiterte jeder Versuch, den deportierten Frauen eine Entschädigung oder wenigstens eine Kur zukommen zu lassen. Auch hier setzt man offenbar auf die biologische Lösung, die diese „Kriegsfolgen“ von ganz alleine „bereinigen“ wird.
Freya Klier, „Verschleppt bis ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern“. Ullstein Verlag, Berlin 1996, 351 Seiten, 34 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen