■ Die Spar- und Steuergesetze von 1996 reißen neue soziale Gräben auf: zwischen Vorruheständlern und älteren Beschäftigten, Leistungsstarken und Kranken, Erben und Nichterben. Die Ungerechtigkeiten unterminieren die Solidarität.: Die zerfurc
Die Spar- und Steuergesetze von 1996 reißen neue soziale Gräben auf: zwischen Vorruheständlern und älteren Beschäftigten, Leistungsstarken und Kranken, Erben und Nichterben. Die Ungerechtigkeiten unterminieren die Solidarität.
Die zerfurchte Gesellschaft
Wenn der Staat nicht mehr viel zu verteilen hat, dann müssen die ewigen Werte her. „Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft erreicht auch der beste Sozialstaat nicht“, beschwor Roman Herzog in seiner Weihnachtsansprache. Wohl wahr. Aber die Mitmenschlichkeit ist nicht mehr das, was sie mal war: Die neuen Spar- und Steuergesetze reißen neue soziale Gräben auf, die sich zunehmend auch quer durch die Bevölkerung ziehen. Das unterminiert Solidarität.
Beispiel Vorruhestand: Wer als Mittfünfziger noch vor dem 13. Februar 1996 einen Ausscheidungsvertrag mit seinem Unternehmen vereinbart hatte, durfte sich glücklich schätzen. Danach ging nichts mehr. Mit Stichtag 14. Februar strich Minister Norbert Blüm die eher komfortable Altersfreizeit. Die „Rente wegen Arbeitslosigkeit“ mit 60 Jahren wurde abgeschafft. Wer im nächsten Jahrtausend schon mit 60 in Rente wechselt, bekommt 18 Prozent weniger Altersruhegeld. Blüm: „Die Rentenkasse muß entlastet werden.“
Nach der Reform zum Arbeitsförderungsrecht werden zudem künftig Abfindungen auf das Arbeitslosengeld angerechnet, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere verkürzt. Das kann pro Kopf zwischen 100.000 Mark und 200.000 Mark weniger von Arbeitsamt und Rentenkasse ausmachen.
Pech für die zu spät Geborenen unter 55 Jahren. Glück für jene Älteren, die noch vor dem 14. Februar 1996 mit der Firma einen Ausscheidungsvertrag unterschrieben hatten und mit dem „goldenen Handschlag“ in die Altersfreizeit wechseln. Sie genießen „Vertrauensschutz“ und damit die volle Abfindung, lange das Arbeitslosengeld und nahezu die volle Rente mit 60.
Tausende haben davon Gebrauch gemacht. Bei der Hoechst AG in Frankfurt beispielsweise verließen seit 1991 11.000 Mitarbeiter den Betrieb, 90 Prozent davon mit Erreichen des 55. Lebensjahres. Sie können bis zum Erreichen des Rentenalters mit 60 Jahren 90 Prozent ihres früheren Nettogehaltes verfrühstücken.
Wer hat, der hat. Und profitiert von den neuen Steuergesetzen auf Vermögen. „Unvertretbar“ nannte es der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), daß ab 1997 die Vermögensteuer nicht mehr erhoben wird. Statt dessen verlangen die Finanzämter zwar mehr Erbschaftsteuer, das aber gleicht die Einbußen nicht aus. Für erbende Kinder bleibt ein Freibetrag von 400.000 Mark steuerfrei und gelten niedrige Steuersätze. Wer erbt, hat seine private Altersvorsorge sicher.
Und das sind nicht wenige: Der Graben zwischen Erben und Nichterben zieht sich quer durch alle Schichten. Im Westen besitzen immerhin fast die Hälfte aller Haushalte eine Immobilie. Mehr als ein Drittel (Osten: 9 Prozent) aller Haushalte haben sogar Immobilien im Wert von mehr als 250.000 Mark. Jeder fünfte Haushalt hortet außerdem noch mehr als 100.000 Mark an Geldvermögen (Osten: 1,5 Prozent). So leicht wie in den vergangenen Jahrzehnten wird es nicht mehr für die Mittelschicht, durch Arbeitseinkommen und Immobilienkäufe den Familienbesitz zu mehren.
Nicht nur zwischen Vorruheständlern und Beschäftigten in mittleren Jahren, zwischen Erben und Nichterben verlaufen die neuen Gräben. Auch längere Krankheit kann den Arbeitskollegen schneller als zuvor ins wirtschaftliche Desaster stürzen.
Die Lohnkürzung um 20 Prozent für Kranke, die in einigen Branchen umgesetzt wurde, kann durch den Verzicht auf Urlaubstage noch kompensiert werden. Beim Krankengeld ist das nicht möglich, Langzeitkranke sind angeschmiert. Sie erhalten nach sechswöchiger Lohnfortzahlung für eine Dauer von bis zu anderthalb Jahren Krankengeld, das von 80 auf 70 Prozent des zuvor erhaltenen Lohnes gesenkt wurde.
Wer mithalten will, muß fit sein. Sehr fit. Die praktische Erfahrung zeige, daß bei schwacher Konjunktur in Unternehmen „die Bereitschaft von Arbeitgebern wächst, häufiger erkrankte Arbeitnehmer nicht mehr ,mit durchzuschleppen‘, sondern sich von ihnen durch eine Kündigung zu trennen“, erklärt der Arbeitsrechtler und Buchautor Walter Scherr. Die Zahl der krankheitsbedingten Kündigungen nimmt zu.
Im Wettbewerbsdruck schwimmen nur jene oben, die den Wert eines Unternehmens erhöhen. Beim Daimler-Konzern und der Deutschen Bank bekommen Topmanager im nächsten Jahr Optionen zum Kauf von Unternehmensaktien geschenkt. Die Optionen dürfen nur dann ausgeübt werden, wenn der Aktienkurs eine bestimmte Hürde überspringt. Option „zum Arbeitsplatzabbau“, höhnte die IG Metall in Erinnerung an den vielfältigen Personalabbau, der Aktienkurse klettern ließ. Der Daimer-Konzern betont, mit den Optionen solle „dem Management ein Anreiz gegeben werden, sich noch stärker an der Wertsteigerung des Unternehmens auszurichten“. Barbara Dribbusch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen