: Bibliotheken sind Irrenhäuser
Foucault halluzinieren – Patricia Dunckers akademischer Liebesroman „Die Germanistin“ liefert eine Vulgärversion von Michel Foucaults Philosophie, aber außerdem auch ein geschickt verschlungenes Erzählkonstrukt ■ Von Peter Michalzik
Es hat viel passieren müssen, bis es soweit ist. Der Ich-Erzähler, eine namenlose Figur, die nur eines ist, Leser, und Paul Michel, Schriftsteller, der den Leser „petit“ nennt, sitzen sich im Restaurant gegenüber, essen crêpe sucré und reden.
Es ist das erste Mal, daß zwischen beiden der Name fällt: „Hast du gelesen, was Foucault über das Irrenhaus schreibt: Wahnsinn ist Theater, ein Schauspiel“, sagt Paul Michel. Der Leser schweigt. „Wahnsinn und Leidenschaft waren schon immer austauschbar. In der ganzen literarischen Tradition des Abendlandes. Wahnsinn ist eine Überfülle des Daseins. Wahnsinn ist eine Art, sich schwierigen Fragen zu stellen. Was meinte er, der machtlose, hochfahrende König? O Narr, ich werde rasend!“
Das ist in Kurzform der Gehalt von „Die Germanistin“. Als Interpretation Foucaults ist das Buch eine Vulgärversion, dessen Bewußtseinsstand der König Lear ein paar Jahrhunderte zuvor auch schon hatte. Trotzdem ist „Die Germanistin“ ein trickreiches Buch, eben weil viel passieren mußte, bis Paul Michel und sein Leser soweit sind, um beieinanderzusitzen, um die Beziehung zwischen Leser und Schreiber wirklich zu machen. Also der Reihe nach.
Die Bibliotheken literaturwissenschaftlicher Seminare sind Irrenhäuser, voll von Leuten, die Erscheinungen und Obsessionen nachgehen, erklärt der erzählende Leser, so auch in Cambridge, wo er studiert, so auch bei ihm. Er schreibt an einer Dissertation über Paul Michel. Michel ist der fiktive, aber berühmte französische Verfasser klassisch strenger Bücher, als Figur legendär: schwul, charmant, schön, provokant, gewalttätig.
Trotzdem begehrensmäßig nicht ganz ausgelastet, macht sich unser Leser an eine Kommilitonin ran, die über Schiller schreibt. Bei ihr beginnt der reichlich naive Student zu ahnen, daß Literatur mehr ist, als in den Büchern steht, und daß Michel und Foucault irgendwie zusammenhängen. Sie macht ihm klar, daß man über einen Autor nur schreiben kann, wenn man ihn liebt. Und wenn man ihn liebt, dann sorgt man sich um ihn. Und wenn man sich um ihn sorgt, weiß man, was mit ihm los ist.
Unser Leser erfährt, daß Michel seit Jahren in einem Pariser Irrenhaus sitzt. Könnte es sein, daß er gewalttätig und verrückt wurde, als Foucault starb? Beides passierte im Juni 1984. Allerdings verband die beiden Autoren keinerlei bekannte Beziehung. Er macht sich auf den Weg, kommt sich dabei vor wie ein Agent im Auslandseinsatz, von der Germanistin ferngelenkt, und er rückt sich und Michel näher, ohne daß er begreift, was vor sich geht, er spürt, wie eine Obsession von ihm Besitz ergreift. Er stöbert Liebesbriefe Michels an Foucault auf, alle offensichtlich unabgeschickt. Seine Ausstrahlung ändert sich, Mütter bringen Kinder vor ihm in Sicherheit. Und er erfährt von einem Arzt, der Michel aufgegeben hat, daß der Schriftsteller a.D. nach Clermont-Ferrand verlegt wurde.
Im englischen Original heißt das Buch „Hallucinating Foucault“. Es handelt vom weiten Raum in den Leserköpfen, vom ungestillten Begehren, das immer Papier bleibt und deshalb um so heißer lodert. Platt wird das nur, wenn Paul Michel und die Germanistin das Interpretieren anfangen, das steht in Hunderten von Seminararbeiten genauso gut. Als Geschichte aber ist „Hallucinating Foucault“ unergründlich wie ein romantisches Märchen, zwangsläufig und trotzdem überraschend. Während es bei den Romantikern immer ungeklärte Familienbande waren, die ihre Schrecken offenbarten, sind es hier selbstgewählte, trotzdem schicksalhafte Geistesbande.
Störend sind neben den etwas altklugen Selbstinterpretationen, auch in den Briefen, die Michel an Foucault geschrieben hat, vor allem einige Ungereimtheiten: Mal ist das Französische ins Deutsche übersetzt, mal nicht, Foucaults „Les mots et les choses“ heißt einmal so, dann hat es den deutschen Titel „Die Ordnung der Dinge“. Von den Zuständen in psychiatrischen Anstalten hat Patricia Duncker klischeehafte Vorstellungen, da stinkt es nach Fäkalien, die Doktoren sind undurchschaubare Tiefenanalytiker und die Rezeptionsdamen abweisende Hexen. Die Gender- und Ödipusspielchen, die sie in ihre Fabel einbaut, sind belanglos. Obwohl der Ich-Erzähler ein Mann ist, wird man das Gefühl nicht los, daß eine Frau erzählt.
Trotzdem ist „Hallucinating Foucault“ ein wichtiges Buch. Der Roman reduziert Foucault nämlich auf das, was seine Rezeption bestimmt hat. Ein Autor (was ist das, hat Foucault immer wieder gefragt), der die Philosophie mit dem Sex wieder infiziert hat. Es ist zwar, wie sollte es anders sein, der Sex im Kopf, gleichwohl ist er brenzlig, aufregend und unnachgiebig fordernd. Lesen, so erzählt uns „Hallucinating Foucault“ ist inhaltsleeres und unstillbares Begehren. Entsprechend entzieht sich Foucault, obwohl er Schritt für Schritt in die Fabel eingewoben wird, mehr und mehr.
Am Ende des Romans beschreibt der Ich-Erzähler einen Traum, der immer wiederkehrt. In einer eiskalten, apokalyptischen Landschaft sieht der Träumer Paul Michel und läuft auf ihn zu, ohne ihm näher zu kommen. Da sieht er eine Figur hinter Michel, die er nicht erkennen kann. „Ich weiß nicht, wer er ist. Die Szene erstarrt vor mir wie ein Gemälde, in das ich niemals hinein kann, eine Szene, deren Bedeutung unerreichbar, verborgen bleibt. Ich wache immer bebend auf, elend, allein.“
Das ist eine Paraphrase auf das Ende von Foucaults „Ordnung der Dinge“. In einer der emphatischsten Stellen seines Werks, der Stelle, die ihn berühmt gemacht hat, verschwand der Mensch „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. In diesem Roman verschwindet nur einer, die Kontur von Foucault versinkt langsam zwischen den Seiten, die letztlich immer nur von einem reden, von ihm.
Patricia Duncker: „Die Germanistin“. Aus dem Englischen von Karen Nölle-Fischer, Berlin Verlag, 238 Seiten, 38 DM
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