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Schlamperei und fehlender Informationsfluß belgischer Justiz und Polizei sind mit schuld am Tod von vier Kindern, ergibt der Bericht der Dutroux-Kommission. Mögliche Verwicklungen von Politikern wurden ausgeklammert Aus Brüssel Alois Berger

„Die Mädchen könnten noch leben“

Vier Mädchen sind tot: Julie und Melissa, Ann und Eefje. Sie könnten noch leben, wenn die belgische Polizei und Justiz nicht gleichgültig und mit unglaublicher Schlamperei ermittelt hätten, wenn rivalisierende Polizeidienste nicht sogar Informationen zurückgehalten hätten. Dies ist das Ergebnis des Untersuchungsausschusses des belgischen Parlaments zur Affäre des Kinderschänders Marc Dutroux.

Auf 150 Seiten plus 240 Seiten Anhang listet der Untersuchungsbericht all die Versäumnisse auf, die mindestens vier Kindern das Leben gekostet haben. Mindestens vier, die Opfer des einschlägig vorbestraften und vorzeitig freigelassenen, arbeitslosen 39jährigen Marc Dutroux und seiner Bande. Aber auch die achtjährige Lubna Benaissa, Opfer eines anderen Sexualstraftäters, könnte noch leben, hätte die Polizei hier nicht dieselbe Nachlässigkeit an den Tag gelegt wie bei Dutroux. Und dann sind da noch die ungelösten Fälle einer Reihe anderer Kinder, die vor Jahren verschwunden sind und deren Spuren plötzlich auf Dutroux zeigen. Die wichtigste Frage aber, die Belgien beschäftigt, läßt der Bericht unbeantwortet: Wurden Dutroux und seine Komplizen von hohen Beamten aus Polizei und Justiz gedeckt oder gar von Politikern, mit denen Dutroux und sein mutmaßlicher Auftraggeber Michel Nihoul Geschäfte machten? Die Frage der politischen Protektion soll in den nächsten Monaten getrennt untersucht werden. Der gestern vorgelegte Untersuchungsbericht beschränkt sich deshalb auf die mangelhafte Arbeit der Ermittlungsbehörden. So hatte die Gendarmerie in Charleroi schon im Sommer 1995 Hinweise, daß Marc Dutroux in seinem Keller Käfige für Kinder baute. Informanten bestätigten sogar, daß Dutroux Geld für die Entführung kleiner Mädchen geboten habe. Doch die Gendarmerie, die dem Innenminister untersteht, gab diese Erkenntnisse nicht an die Kriminalpolizei des Justizministers weiter, obwohl jeder wußte, daß dort nach vermißten Kindern gefahndet wurde. Zu diesem Zeitpunkt vegetierten Julie und Melissa in Dutroux' Keller, wo sie für Pornovideos mißbraucht wurden, bevor sie dort verhungerten. Der Ausschußvorsitzende Marc Verwilghen läßt keine Zweifel: „Die vier Mädchen könnten noch leben, wenn der Informationsaustausch funktioniert hätte.“

In sieben Monaten befragte der Ausschuß 125 Zeugen, insgesamt 280 Stunden wurden live im Fernsehen übertragen. Was die Belgier dabei über ihr Justizsystem erfuhren, überstieg manchmal ihre Vorstellungskraft. Polizeibeamte hatten sich geweigert, in einen verdächtigen Keller zu steigen, weil sie wegen des Drecks „Gummistiefel und Spezialanzüge gebraucht hätten“, wie ein Polizist sagte. In einigen Fällen wurde erst Wochen nach der Entführung ein Untersuchungsrichter beauftragt. „Das Verschwinden wurde registriert, als ob es sich um eine vermißte Geldbörse gehandelt hätte“, heißt es in dem Bericht.

Doch selbst wenn die Entführungen verfolgt und die Informationen weitergeleitet wurden, führte das nicht unbedingt zu Ergebnissen. So, wenn die Informationen an die Untersuchungsrichterin Martine Doutrewe gelangten, die in Lüttich die Fahndung nach Julie und Melissa leitete. Wenige Tage nach dem Verschwinden der beiden ging die Richterin erst einmal in Urlaub, danach „wollte sie nicht alle Vernehmungsprotokolle vorgelegt haben, weil ihr die Zeit fehlte, sie zu lesen“.

Wie schlampig die Ermittlungen geführt wurden, zeigt sich allein schon aus der Tatsache, daß schließlich sieben Kinder später anhand der vorhandenen Spuren gefunden wurden. Nur zwei lebten noch. Nachdem die Staatsanwaltschaft in Neufchateau die Fahndung übernommen hatte, ordneten ein engagierter Staatsanwalt und ein entschlossener Untersuchungsrichter die Indizien, nahmen Dutroux und fünf Komplizen fest, befreiten zwei Mädchen aus dem Kellerverlies und fanden schließlich die Leichen von vier anderen in Dutroux' Garten. Selbst den fünf Jahre zurückliegenden Mord an der kleinen Lubna Benaissa, die 1992 in Brüssel nahe der Wohnung der Eltern entführt worden war, klärten sie auf.

Doch reicht die Beschreibung von Gleichgültigkeit und Inkompetenz aus, das Ermittlungsdesaster zu erklären? In Ansätzen läßt der Untersuchungsbericht durchblicken, daß dahinter auch eine absichtliche Verschleierung stecken kann: „Jenseits der Rivalitäten und Konkurrenzkämpfe zwischen den Polizeistellen hat die Untersuchung auch zutage gefördert, das es in den Polizeidiensten häufig auch Formen der Kriminalität mit negativen Konsequenzen gibt.“ Im Klartext: Einzelne Polizisten haben in anderen Bereichen, vorwiegend Autoschiebereien, mit Dutroux zusammengearbeitet. Zum Beispiel Hauptkommissar Georges Zicot aus Charleroi, der deswegen vorübergehend festgenommen worden war, inzwischen aber wieder frei ist. Auch der Wachtmeister Rene Micheaux hatte auffallend gute Kontakte zu Dutroux und seinem Komplizen Nihoul, dessen Sexparties er regelmäßig besuchte, natürlich streng dienstlich und inkognito. Obwohl Zeugen bestätigen, daß dabei Minderjährige angeboten wurden, hat Micheaux keine Ermittlungen eingeleitet. Wie Dutroux konnte sich Nihoul offensichtlich unbehelligt im rechtsfreien Raum bewegen.

Hier hält sich der Untersuchungsbericht auffallend zurück. Es müsse erst noch untersucht werden, ob die Polizisten tatsächlich eigenmächtig vertuscht hätten, heißt es, womöglich hätten auch hochrangige Politiker die Finger im Spiel gehabt. Es gebe Indizien dafür. Damit will sich der Ausschuß in den nächsten Monaten befassen. Ob er zu einem Ergebnis kommt, ist zweifelhaft: Im Ausschuß sitzen Parteipolitiker, und „einigen ist die Loyalität mit Parteifreunden wichtiger als die Wahrheit“, befürchtet ein Ausschußmitglied nach seinen bisherigen Erfahrungen.

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