■ Tony Blairs Triumph zeigt: Für den Aufbruch zu neuen Ufern stimmen die alten politischen Landkarten nicht mehr: Jenseits von links und rechts
Auch linke Parteien können noch Wahlen gewinnen. Wenn sie alle linken Inhalte abgeschüttelt haben, werden manche Traditionswächter grimmig hinzufügen. Links oder erfolgreich, ist das die Frage? Der künftige britische Premier hat die Beobachter in Verlegenheit gestürzt: Ist er noch links oder schon rechts, ein Mann von New Labour oder des alten Kapitals? Sie haben gesucht und sind zu keinem Ergebnis gekommen – und schon gar nicht auf die Idee, daß die alten politischen Kategorien, mit denen sie da hantieren, längst nicht mehr greifen.
Das spektakuläre Ergebnis für New Labour hat deutlich gemacht, daß der politische Erfolg nur noch jenseits von links und rechts zu haben sein wird. Die politischen Koordinaten sind durcheinandergewirbelt, nicht weil Politiker opportunistisch, sondern weil die alten Ideologien an der Wirklichkeit zerbrochen sind. Auf die großen Probleme der Zeit gibt es keine linken oder rechten Antworten mehr, und wo sie es noch gibt, werden sie die Probleme nicht lösen, sondern verschärfen.
Beispiel Sozialstaat: In Deutschland konzentriert sich linke Politik darauf, die Vergangenheit zu verteidigen. In der Umgebung Tony Blairs denkt man darüber nach, wie in Zukunft (junge) Menschen in die Arbeitslosigkeit gar nicht erst hinein oder möglichst schnell wieder herauskommen, indem Sozialeinkommen zeitlich befristet und mit den frei werdenden Mitteln Tätigkeiten im dritten Sektor gefördert werden. Darüber mag man so oder so debattieren, aber die Frage ist gestellt: Was ist eigentlich besonders sozial an einem Sozialstaat, der aktiv dazu beiträgt, eine wachsende Zahl (junger) Menschen auszuschließen? Menschen nur die Unterstützung zu kappen und sie ins gesellschaftliche Nichts zu stürzen wäre zynisch, kapitalistisch, keine Reform. Die alten Strukturen einfach zu konservieren ist nichts anderes als sozialkonservativer Zynismus im linken Gewande.
Beispiel Arbeitsmarkt: Vor allem in den privaten und personenbezogenen Dienstleistungen wirken die Strukturen des deutschen Sozialstaates und Arbeitsmarktes ausgesprochen arbeitsplatzvernichtend. Die deutsche Gesellschaft bezahlt die Kosten des Strukturwandels durch eine große Zahl von Arbeitslosen. Dafür haben die, die drin sind, relativ hohe und gleiche Löhne. Die amerikanische Gesellschaft bezahlt die Kosten des Strukturwandels durch eine große Zahl von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze beschäftigt sind. Das sind, links wie rechts, die alten, ausgetretenen Pfade.
Was ist eigentlich besonders sozial an einem Sozialstaat, der den Protektionismus der Arbeitsplatzbesitzer organisiert zu Lasten derer, die draußen sind? Mit dieser Frage könnte der Streit darüber losgehen, wie niedrige Markteinkommen und Sozialeinkommen auf intelligente Weise so kombiniert werden können, daß Arbeitsarmut ebenso vermieden wird wie die soziale Spaltung der Gesellschaft.
Beispiel Bildungspolitik: Sowohl Bill Clinton als auch Tony Blair haben Fragen der Bildung und der Ausbildung in den Mittelpunkt ihrer Wahlkämpfe gerückt. Hierzulande sucht man Vergleichbares vergebens. Die einen rufen nach der Elite, die anderen wollen weiter die Bildung in staatlicher Regie verwalten. Derweil sinken Qualität und soziale Mobilität. Jenseits von links und rechts wäre eine Bildungs- und Hochschulpolitik zu formulieren, die Chancengerechtigkeit, Wettbewerb und standards of excellence miteinander verbindet. Doch diese Position ist gegenwärtig in Deutschland nicht besetzt. Warum eigentlich?
Tony Blairs politisches Angebot meint, wie vage auch immer, andere Inhalte, aber auch eine andere politische Methode. In beidem unterscheidet er sich von den Alt-Jusos, die gegenwärtig die SPD regieren. Blairs Politik beginnt nicht mit Programmen, um dann die Wirklichkeit zu denunzieren, sondern mit Problemen, um dann nach Lösungen zu suchen. Sie geht von der veränderten Lage aus, um dann zu überlegen, wie man das Beste daraus machen kann. Sie hat ein pragmatisches, nicht ein religiöses Verhältnis zum Staat. Das Projekt läßt sich einfach beschreiben: an Werten festhalten, diese aber neu organisieren. Bei uns dagegen halten die einen an den alten Strukturen fest, ohne zu fragen, wessen Solidarität diese eigentlich befördern. Andere predigen (Familien-)Werte, fragen aber nicht nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die diese wachsen oder verkümmern lassen.
Blair ist aus den alten Schützengräben seiner Partei desertiert und hat gewonnen. Die wirtschaftliche Prosperität haben die Wähler bei ihm in guten, die soziale Stabilität in besseren Händen gesehen. Ob die deutschen Parteien die Lektion begreifen? Blair hat ja nicht nur den historischen Sozialismus, sondern auch den aktuellen Sozialdemokratismus verabschiedet. Die SPD steht vor der Frage, ob ihr Wähler wichtiger sind als Funktionäre. Erfolgreich werden nur Parteien und Politiker sein, die mehr repräsentieren als die jüngste Beschlußlage der Partei. Die Zeiten sind vorbei, da man die Gesellschaft vermessen konnte nach dem Motto: Wir sammeln das linke bzw. das „konservative“ Lager und in der Mitte noch ein paar Stimmen, dann wird's schon reichen.
Die allermeisten Wähler sind weder links noch rechts, sondern widersprüchliche und unberechenbare Wesen. Sie wollen bei jeder Wahl neu gewonnen werden. Das wird nur einem Kandidaten gelingen, der sich von der Partei emanzipiert hat, aber gleichwohl noch unterscheidbar ist. Daß in der SPD die Buchhalter aus den alten ideologischen Katasterämtern den Ton angeben, das läßt Kohl zu Recht hoffen. Aus der Zeit der politischen Wenden nach 1979 (Reagan, Thatcher, Kohl) ist nur noch er übriggeblieben. Als einziger hat er keine Revolution geprobt, den Korporatismus nicht angetastet. Jetzt steht das Land vor der Quadratur des Kreises: die wirtschaftliche Dynamik zu gewinnen, ohne den sozialen Zusammenhalt zu verlieren. Für diese Aufgabe haben die Briten zweimal die Regierung gewechselt. Und die Deutschen? Noch spüren die meisten nicht jenen kollektiven Leidensdruck wie die Briten in den 70er und die Holländer in den 80er Jahren. Kohls Risiko: daß ihm die Deutschen diese Aufgabe nicht mehr zutrauen. Seine Chance: daß auch die sozialkonservative Partei Deutschlands nicht gerade frischer wirkt. So werden sich beide Parteien vorläufig wohl auf die alten Rituale einigen. Neue Koalitionen an Ideen liegen jenseits von links und rechts – und jenseits der Wahl 1998. Warnfried Dettling
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