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Steht die Fußballnation vor dem Ende auf Raten?

„Extrem konservative Veranstaltung“: Der deutsche Fußball hat ein Imageproblem. Die Basketballer würden den Kickern den Rang ablaufen, mahnt der Bundestrainer seit Jahren. Was ist wirklich dran an den Nachwuchssorgen?  ■ Von Gerhard Reger

Deutschland lamentiert. Deutschland erregt sich. Deutschland ist verzeifelt. Kaum ein Tag zieht ins Land, an dem nicht irgend jemand in den sportlich interessierten Kreisen dieses Landes davon redet, wir hätten ein Nachwuchsproblem. Diese These wird vornehmlich auf der Deutschen Lieblingssport, den Fußball, bezogen. Die deutsche Fußballnation vor einem Ende auf Raten?

Immer noch ist die Zahl der im Deutschen Fußballbund (DFB) registrierten jugendlichen Kicker überraschend hoch. Mehr als 1,3 Millionen Jugendliche jagen organisiert dem runden Leder hinterher. Doch die Zahlen stagnieren, Tendenz nach unten. Und ganz oben, in der Bundesliga, wird – abgesehen vielleicht von solchen Ausnahmespielern wie Lars Ricken – eigentlich jeden Samstag aufs neue deutlich, wie wenig junge Spieler heutzutage noch in die Stammformationen der Eliteklasse nachrücken. In den achtziger Jahren registrierte der DFB noch Zuläufe ohne Ende. Doch durch die wachsende Konkurrenz und Attraktivität anderer Sportarten verlor Fußball seine ehedem immer dagewesene Anziehungskraft auf die Bundesbürger unter 18 Jahren.

Der deutsche Fußball hat ein Nachwuchsproblem, sagt beispielsweise auch Bundestrainer Berti Vogts. Die „spielerischen Elemente“ würden zugunsten von „Kraftbolzerei“ vernachlässigt, und unserem Land mangele es am, wie Vogts das nennt, „klassischen Straßenfußball“. Deswegen fordert der Bundestrainer unter anderem, „daß alle Kinder und Jugendlichen die vorhandenen Sportplätze nutzen dürfen, nicht nur die Vereinsmitglieder“.

Die Beweiskraft solcher pessimistischer Fakten und defätistischer Argumentationen läßt sich vulgär-empiristisch dennoch schwer nachvollziehen. Denn beim täglichen Rundgang durch die Straßen der Städte finden sich nicht allzuviele Merkmale, die auf eine Zukunftslosigkeit des Fußballs in Deutschland verweisen. Die Begeisterung für das Spiel hat sicher auch und gerade unter Jugendlichen nicht abgenommen. Dafür sind nicht nur die wachsenden Zuschauerzahlen Beleg, sondern auch die Zuverdienste der Vereine durch Marketingaktivitäten via Fanartikel. Und natürlich sieht man in den Stadien und auf den Straßen noch immer eine Menge Kids, die im Trikot und/ oder Schal von – vorzugsweise – Borussia Dortmund oder Bayern München ihres Weges gehen. Was also ist das Problem?

Adidas-Pressechef Jan Runau ist sich ganz sicher: „Das Problem ist, daß Fußball in Deutschland eine extrem konservative Veranstaltung ist.“ Unter den Jugendlichen aber werden Sportstars wie Popstars gehandelt. Und gegen den Glamour fällt das triste Den- Platz-rauf-und-runter-Gerenne des eigenen, wöchentlichen Vereinstrainings natürlich deutlich ab. Statt dessen greifen immer mehr Teenager lieber in die Kioskregale, um der neuesten Ausgabe von Bravo Sport habhaft zu werden. Fußball hat also ein deutliches Imageproblem. Der Sport in seiner höchsten Leistungsform wird vergöttert, doch die Begeisterung bleibt passiv. Aktives Nachahmen? Nein danke!

Insbesondere die Altersgruppe zwischen 13 und 17 Jahren hat diese Haltung stark verinnerlicht. Und genau sie ist es, die in den Fokus des Sportartikelherstellers adidas und des DFB gerückt ist. Die beiden Sportgiganten veranstalten auch in diesem Jahr wieder die Marketingmaßnahme „DFB adidas Cup“, eine Outdoor-Veranstaltung auf Kleinfeldern, bei der Teams mit jeweils vier Spielern gegeneinander antreten. „Gerade dieses ,Vier gegen Vier‘ soll mit dazu beitragen, die Attraktivität des Fußballs für Jugendliche aufrechtzuerhalten“, meint Jan Runau. Und bei der neuerlichen Rekordbeteiligung der ersten Veranstaltungen in Leverkusen und München scheint evident: Der Fußball braucht diesen Kick von außen.

Steigenden Zulauf verzeichnet auch die ebenfalls von adidas initiierte „Streetball Challenge“, eine Basketball-Freiplatz-Tournee. Ende April trafen sich in Köln zum Turnier „Drei gegen Drei“ stolze 743 Teams, und die folgenden Veranstaltungen im Juni und August verzeichnen ebenfalls schon Rekordbeteiligung.

Streetball ist einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland seit 1992 ein Begriff. Damals wiesen die Statistiken des Deutschen Basketball-Bundes (DBB) 140.000 organisierte Vereinsmitglieder auf. Fünf Jahre später ist diese Zahl auf 201.000 angewachsen, damit ist der DBB mit einem Plus von über 50 Prozent der am stärksten angewachsene Verband im gesamten deutschen Sport. Und interessant ist, daß es fast ausschließlich Jugendliche waren, die in diesen Jahren in die Vereine gegangen sind. Noch aussagekräftiger: Die Zahl der aktiven Streetballer in ganz Deutschland wird derzeit auf etwa 200.000 geschätzt, wobei der überwiegende Teil eben nicht in Vereinen, sondern in „loseren“ Organisationsformen beheimatet ist.

Der erfolgreichste deutsche Basketballer aller Zeiten, Detlef Schrempf, der sein Geld in der amerikanischen Profiliga NBA bei den Seattle SuperSonics verdient und sich für seinen Sponsor adidas aktiv an der Streetball-Bewegung in Deutschland beteiligt, sieht den Zusammenhang: „Streetball ist ideal, um das Interesse der Jugendlichen am Basketball zu wecken.“ Und tatsächlich: Mittelbar ist es ein recht hoher, wenn auch nicht genau zu beziffernder Prozentteil von Streetballern, der dann irgendwann auch in den organisierten Basketball wechselt.

Einen positiven Beleg dieser These liefert der Rhöndorfer TV. Der in der Nähe Bonns beheimatete Klub, dessen erste Mannschaft erfolgreich in der Basketball-Bundesliga spielt, verzeichnet derzeit insgesamt 400 Mitglieder bei 12 Jugendmannschaften. Die Kapazitäten des Provinzclubs sind erst einmal erschöpft, so daß sich die Vereinsverantwortlichen zwangsweise zu einem Aufnahmestopp entscheiden mußten.

Eine vor einiger Zeit durchgeführte Erhebung des Instituts „Sport + Markt“ ergab, daß in der Rangliste der Sportarten, die von den 12- bis 19jährigen Bundesbürgern favorisiert werden, Basketball auf Platz eins rangiert – noch vor Fußball. Und Streetball, als eigenständige Variante des Spiels mit der orangefarbenen Kugel, rangiert dort sogar auf Platz vier. Aber Streetball ist sicherlich nicht das einzige Moment, das Basketball in Deutschland zu einem vor Jahren noch nie erwarteten Popularitätsschub verhalf. Sicherlich trugen dazu auch die cleveren Übersee-Vermarktungsaktivitäten der NBA bei. Deren Megastars wie Michael Jordan, Scottie Pippen, Shaquille O'Neal und nicht zuletzt auch Detlef Schrempf kennt in Deutschland jedes Kind, das etwas auf sich hält. Und sicherlich hat auch der sensationelle Gewinn der Europameisterschaft durch die Deutsche Basketball-Nationalmannschaft 1993 seinen Teil zu einer anderen, populäreren Sicht auf Basketball beigetragen.

Folge davon waren Live-Übertragungen der NBA-Spiele, wie sie derzeit im Deutschen Sport-Fernsehen (DSF) zwar keine Massen, aber zumindest eine enge Zielgruppe ansprechen und an den Sport binden. Bei Europaliga- Spielen des deutschen Meisters und Pokalsiegers ALBA Berlin wurden für das DSF auch schon mal Einschaltquoten von 800.000 Zuschauern mit besonders hohen Anteil Jugendlicher ermittelt – vor Jahren noch undenkbar. Ein Special-Interest-Magazin, wie das Fachblatt Basket, seit nunmehr knapp drei Jahren auf dem Markt, kann monatlich auf mehr als 50.000 Leser zählen – im Schwerpunkt Jugendliche. Und das bei einer Zielgruppe, die wie schon gesagt, eher eng und wirklich „special“ ist. Neuerliches und bestes Beispiel für das gestiegene Interesse am Basketball in Deutschland aber dürfte derzeit der Boom um ALBA Berlin sein. Eine junge Mannschaft, die in einer von Spitzensport nicht gerade endlos heimgesuchten Metropole eine auf die Größe des Sports bezogene wahre Hysterie ausgelöst hat.

Rekordbesucherzahlen, nicht nur bei den Spielen gegen Europas Spitzenklubs, sondern auch in der Bundesliga. Und die anderen ziehen nach. Der westfälische Provinzklub TuS Herten wird seine Heimspiele in der kommenden Bundesliga-Saison in der Riesenhale des CentrO in Oberhausen austragen. Zwischen Rekordmeister Bayer Leverkusen und dem Rhöndorfer TV haben Fusionsgespräche stattgefunden. Ziel: mit einer gemeinsamen Mannschaft zukünftig in der gerade im Bau befindlichen 18.000 Zuschauer fassenden Arena in Köln anzutreten. Was auf den ersten Blick nach Größenwahn riecht, hat andere Ursachen: Das Interesse an Basketball wächst, das Niveau der Leistungen steigt und damit auch das Interesse junger Leute, sich selbst einmal zwischen den Körben zu versuchen.

Der Unterschied zwischen den Sportarten Fußball und Basketball sowie ihrer unterschiedlichen Attraktivität auf Jugendliche liegt sicherlich auch darin begründet, daß Basketball im Gegensatz zum in Deutschland dominierenden Marktführer Fußball ein noch schlummerndes Potential ausschöpfen kann. Auch wenn dieses irgendwann an seine Grenzen stoßen wird. Im Männer-Basketball hat Deutschland einen einzigen internationalen Titel geholt, die Fußball-Nationalmannschaft war schon Weltmeister, Europameister, und Deutschlands Vereine haben alle möglichen internationalen Trophäen gewonnen. Insofern muß die an den Fußball und seine für den Nachwuchs Verantwortlichen gestellte, seligmachende Frage auch nicht lauten: Ist das Nachwuchsproblem des deutschen Fußballs und damit das des DFB mit einer Ausrichtung an der NBA und ihren Vermarktungsstrategien zu lösen? Denn die deutlich relevantere Frage muß lauten: Wie ist das vorhandene sportliche Niveau überhaupt zu halten? Eine Frage übrigens, die angesichts ins Astronomische ansteigender Gehälter und nicht unbedingt damit kongruent verlaufender Leistungen auch in der NBA längst eine Diskussion entfacht hat.

Man sollte bei der ganzen Diskussion um Nachwuchsproblematiken nicht vergessen, daß Boomsportart unter den Jugendlichen in den USA keinesfalls Basketball ist, sondern eine Sportart, deren Regeln immer noch nur einem kleineren Prozentsatz der Amerikaner geläufig sind. Der Name dieser Sportart ist, wir ahnen es, Fußball.

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