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Erotik von Erfolg und Scheitern

■ Metamorphosen einer Redaktion: Schluß mit der negativ-feindlichen Einstellung zum Erstligafußball

Seitdem Hertha auf Erstligakurs ist, hat sich das Verhältnis zwischen der traditionell St.-Pauli-orientierten Anzeigenabteilung und der im Zweifel lokalpatriotischen Lokalredaktion deutlich verschlechtert. Wir dokumentieren das Zeugnis einer ungewöhnlichen Entfremdung:

7. April 1997, 10.30 Uhr: „Das ist nicht euer Ernst?“ fragt Anzeigenchef Gerd T., als er erfährt, daß die Hälfte der Lokalredaktion am Abend beim Spitzenspiel der Herthaner gegen den FC Kaiserslautern verweilen würde. Selbst eine diplomatische Note beim Lokalchef konnte daran nichts ändern. Gerd N. deckte das Verhalten seiner Fußballfraktion, obwohl an diesem Abend mangels Personal ein Termin beim Stadtforum nicht wahrgenommen wird.

7. April 1997, 21 Uhr: Beim Spiel selbst hielt es vor allem Rolf. L. nicht mehr auf den Rängen. Selbst bei der La-ola-Welle spielte er mit. „Massenekstase“, meinte er hinterher entschuldigend. Reporterin Barbara B. diskutierte die Abseitsregel, und Uwe R. dachte wehmütig daran, wie er seine Kindheit in der Cannstatter Kurve im Stuttgarter Neckarstadion verbrachte. Einzig Rathausreporter Christian F. blieb seltsam distanziert. Schon vor dem Spiel hatte er ängstlich darauf gedrängt, den gebotenen Abstand zu den Hertha- Fröschen zu suchen. Als dann aber die amtliche Zuschauerzahl bekanntgegeben wurde, war auch er wie elektrisiert: „75.000“, sagte er immer wieder, „75.000...“

23. Mai 1997: Hertha ist aufgestiegen. Auf der Redaktionskonferenz der Lokalredaktion findet sich keiner, der sich über die Berliner Erstklassigkeit feindlich-negativ äußern möchte. Anzeigenleiter Gerd. T. ist abgetaucht.

Sportredakteur Peter U. versucht die Aufstiegseuphorie intellektuell zu dämpfen: „Natürlich ist keiner für Hertha, alle wollen nur die Dortmunder in Berlin spielen sehen, aber je mehr man sich das einredet, desto geringer wird die Distanz.“ Christian F. assistiert: „Die Hertha-Fans sind und bleiben Dumpfbacken.“ Sein Chef kann das freilich so nicht stehen lassen: „Wo gibt es denn noch Hertha-Frösche?“ fragt Gerd N. Hertha sei ein ganz anderer Verein geworden.

15. August 1997: Hertha hat gegen Bayern gewonnen. Anzeigenchef Gerd T. hat unbezahlten Urlaub genommen und erwägt, wieder nach Hamburg zu ziehen. In der Lokalredaktion kursieren Listen, bei denen man sich für den Erwerb einer Dauerkarte für die kommende Saison eintragen kann.

8. Mai 1998: Im entscheidenden Spiel um den rettenden 15. Tabellenplatz hat Bielefeld im Olympiastadion vor 7.383 Zuschauern gewonnen. Unter ihnen sind auch Gerd T. und die übrigen Mitglieder der Anzeigenabteilung. In der Lokalredaktion wird der Abstieg nüchtern analysiert. Gerd. N. verfaßt einen Leitartikel über die Provinzialität des Sportstandorts Berlin, Rolf L. schreibt ein Essay über die Erotik des Mißerfolgs, und Uwe. R. macht sich mit den Basketballregeln vertraut. taz

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