: Donnerstag ist Abschiebetag
Die Behörden bereiten die Abschiebung von Palästinensern in den Libanon vor. Jeden Donnerstag geht um 13 Uhr ein Flugzeug nach Beirut. Jeden Mittwoch bangen die Flüchtlingsfamilien um ihre Zukunft ■ Von Jens Rübsam
Vier Vieren, zehn Dreien, eine Zwei und eine Eins in Handschrift. „Mist“, sagt Aziza (13), „diese blöden Vieren!“ Zufrieden ist sie mit ihrem Zeugnis nicht – auch wenn der Lehrer in die Beurteilung geschrieben hat: „Aziza ist eine freundliche und vernünftige Schülerin. In den letzten Wochen wurde sie zunehmend fleißiger und erzielte bei den schriftlichen Arbeiten wieder bessere Ergebnisse.“
Hussein (12), Azizas Bruder, ist stolz. Eine Eins in Sport! Sonst alles Vieren, aber was soll's? Er ist halt Sportler. Beim Minimarathon hat er kürzlich den 1. Platz belegt. Das allein zählt. Auch Khadiye (14), die Schwester von Aziza und Hussein, hat heute ihr Zeugnis bekommen. Sie ist zufrieden. Sie war schon immer eine gute Schülerin. Was also soll sie sagen? Nur das: „Ich will Ärztin werden.“
Für Khadiye war dieser Mittwoch eher ein trauriger Tag. Sie hat sich von ihrer kroatischen Freundin verabschiedet, sie haben Adressen getauscht, und sie hat der Freundin versichert: „Ich schreibe dir.“ Dasselbe hat die Freundin zu Khadiye gesagt. Dann sind sie auseinandergegangen.
„Meine Freundin“, sagt Khadiye nachdenklich, „darf nicht in Deutschland bleiben. Sie muß zurück nach Kroatien.“ Khadiye weiß, daß auch ihrer Familie die Abschiebung droht. Schon diese Woche? Oder erst nächste? Erst in zwei Wochen? Oder in drei? Keiner weiß das so genau.
6.000 Palästinenser leben in Berlin. Gut 5.000 von ihnen will die Bundesregierung in den Libanon abschieben. Insgesamt sind in ganz Deutschland 15.000 Palästinenser von der Ausweisung bedroht. Bonn und Beirut verhandeln derzeit über ein Rückführungsabkommen. Die Berliner Ausländerbehörde geht davon aus, daß es bereits Ende des Monats unterzeichnet wird – und hat mit den Abschiebungen längst begonnen. Immer donnerstags, 13 Uhr, geht der Flieger nach Beirut. Immer am Donnerstag morgen werden die Palästinenser von der Polizei zu Hause abgeholt und zum Flughafen Schönefeld gebracht.
Mittwoch mittag. Aziza, Hussein, Khadiye und Seinab, der 7jährige Bruder, kommen nach Hause. Es war der letzte Schultag. Jetzt sind Ferien. Ferien? Khadiye setzt ein Lachen auf. Die Klassenfahrt hat sie absagen müssen – 550 Mark hat ihre Familie nicht aufbringen können. Und als der Lehrer anbot, einen Teil aus der Klassenkasse zu finanzieren und für den anderen Teil die Klassenkameraden um Spenden zu bitten, da hat Khadiye nein gesagt. „Ich wollte das nicht.“ Außerdem: Wer wisse denn schon, wie lange sie, ihre Eltern und ihre sieben Geschwister noch in Berlin bleiben dürfen?
Im Fernsehen läuft „Der Preis ist heiß“. In der Küche läuft der Kaffee durch. Mustafa (45), der Vater, kommt vom Einkaufen. Nadia (34), die Mutter, trägt Ahmet, den Jüngsten der Familie, sieben Monate alt, auf dem linken Arm. Hat ihn fest an die Brust gedrückt. Streichelt ihm mit der rechten Hand durchs Haar. Ahmet lächelt. Hassan (16), der älteste Sohn, wird unruhig. Er will raus. Er hat sich mit seinen Freunden verabredet. Seine Geschwister haben sich in der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung verteilt. Nadia, mit Ahmet auf dem Arm, schaut immer mal nach dem Rechten.
Auf dem großen Tisch vor der Schrankwand liegen vollgepackte Tüten, darunter stehen Kartons, auch vollgepackt. „Wir wissen ja nicht, ob wir morgen schon weg müssen“, sagt Mustafa. Auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa liegen Schlaftabletten. „Ohne die geht gar nichts mehr“, sagt Nadia. Eine Ärztin hat festgestelt: Nadia leidet unter Angst- und Panikanfällen, unter Schlafstörungen, Affektlabilität, depressiven Ausnahmezuständen und funktionellen Körperbeschwerden. „Mittwochs“, sagt Khadiye, „ist es mit Mutter besonders schlimm.“ Denn am Donnerstag ist Abschiebetag.
Khadiye hat einen Brief an die Bravo geschrieben. „Oh, mein Gott, ich hoffe, daß ihr uns helft“, hat sie den Brief begonnen. Und dann hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Daß sie seit 1990 in Berlin lebt. Daß fünf Geschwister hier zur Schule gehen. Daß es hier wirklich ganz schön ist. Daß sie nun abgeschoben werden soll. Daß ihre Mutter kaum noch schläft, die ganze Nacht am Fenster steht und schreckliche Angst hat. Khadiye hat auch vom Libanon geschrieben. „Im Libanon ist Krieg. Im Libanon haben wir niemanden, nicht mal ein Zuhause. Im Libanon ist es wirklich schwierig zu leben.“ Und dann hat sie noch ein Bild beigelegt für den Bravo-Report.
„Die Angst ist so groß“, sagt Ali Maarouf, Vorstandsmitglied der Palästinensischen Gemeinde. Seien früher viele der in Berlin lebenden Palästinenser im Sommer in den Libanon gefahren, traue sich das heute keiner mehr. Aus Angst, nicht wieder nach Deutschland einreisen zu dürfen. Was, hat sich Ali Maarouf in der letzten Zeit oft gefragt, sollen die Leute im Libanon bloß machen? „Arbeiten dürfen sie nicht, sie sind nur Gäste.“ Sie haben keine Wohnung, kein Haus. Ihnen bleibe deshalb nur das Flüchtlingslager und eine ungewisse Zukunft.
Was, fragt auch Nadia, was sollen wir dort machen? „Wir haben doch gar keine Chance im Libanon.“ Das Haus in Beirut sei 1990 im Bürgerkrieg zerbombt worden. All die Verwandten seien geflohen. Sie leben jetzt in Deutschland – in Bremen und in Osnabrück – und haben, im Gegensatz zu Familie R., einen deutschen Paß. Was, fragt auch Aziza, sollen wir im Libanon? „Ich habe mich hier eingelebt. Ich habe Freunde hier. Ich kann gut Deutsch. Ich komme jetzt in die 6. Klasse.“ Im Libanon müsse sie ganz von vorn anfangen, in der ersten Klasse. „An Libanon“, sagt Aziza, „kann ich mich fast gar nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, daß damals Krieg war und daß wir im Keller schlafen mußten.“ Aziza war sechs, als sie mit ihrer Familie nach Berlin kam. Vier ihrer Geschwister, Seinab, Muhamet Ali (4), Abdul (2) und Ahmet, sind hier geboren. Am 10. März hat Familie R. ein Schreiben vom Landeseinwohneramt bekommen. „Ihrem Antrag auf Duldung für sich und ihre Kinder entsprechen wir nicht“, heißt es nüchtern. Rechtsgrundlage sei der Paragraph 55 des Ausländergesetzes. Demnach könne eine Duldung unter anderem nur erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe es erforderlich machten. „Das ist bei Ihnen nicht der Fall.“
Nadia geht im Wohnzimmer auf und ab. Morgen ist Donnerstag. Und heute wird sie wieder nicht schlafen. So wie die vielen Nächte zuvor. Aber die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ist die schlimmste. Dann steht sie am Fenster, starrt in die Dunkelheit, ins Ungewisse. Angst schleicht durch die Ritzen und frißt sich fest, drinnen in der Wohnung . „Mutter hat große Angst“, sagt Hassan und zeigt auf die Packung Tabletten auf dem kleinen Wohnzimmertisch. Auf dem Stuhl daneben sitzt sein Vater. Die Blicke kleben am Boden. Die Arme hängen im Leeren. Ab und an nimmt sich Mustafa eine Zigarette. Schaut kurz hoch. „Der Preis ist heiß“ ist längst vorbei. Müde erzählt er: „1974 bin ich nach Deutschland gekommen. Irgendwann bin ich wieder zurück in den Libanon. Habe geheiratet. Hassan, Khadiye, Aziza und Hussein wurden hier geboren.“ 1990, in der letzten Phase des Bürgerkrieges, ist er mit der Familie nach Deutschland geflüchtet. In die Sicherheit. Erst in einem Heim untergekommen. Dann eine Wohnung gefunden. Größere Anschaffungen waren nicht drin. Das Bett bekam Familie R. geschenkt. Die Heizung geht noch immer nicht. Fenster und Türen sind undicht. Es zieht. Überall.
Mittwoch nachmittag. Familie R. spricht den Abend durch. Die Nacht zu Hause bleiben? Warten, was kommt? Weggehen? Die Kinder bei Freunden und Bekannten unterbringen? Wieder flüchten? „Die Angst“, sagt Khadiye, „die Angst ist bei meinen Eltern groß.“
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