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„Man weiß ja nicht, wer recht hat“

Jahrzehntelang konnte die WAA in La Hague unbehelligt Strahlenmüll ins Meer pumpen. Greenpeace fand das geheime Abflußrohr und mißt millionenfach überhöhte Radioaktivität  ■ Aus La Hague Dorothea Hahn

Die drei Männer blicken auf das Meer. Drei vor der Brust verschränkte Armpaare. Drei an die Kühlerhaube eines blauen Lieferwagens gelehnte Hintern. Sie mögen schon Stunden so stehen und schauen. Auf sie geht der Nieselregen nieder.

Hinter ihnen liegen kahle Klippen und das Dorf Dielette mit seinen Natursteinhäusern und dem neuen Vergnügungshafen, in dem nicht eine einzige Yacht vertäut ist. Links von ihnen auf einer Klippe das AKW von Flamanville. Rechts von ihnen die Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague. Vor ihnen der Ärmelkanal. Ein paar hundert Meter draußen geht die „Rainbow C“ vor Anker.

Die Männer mustern das Greenpeace-Schiff: Am Mast flattert das bunte Transparent „Laßt uns die Meere retten“ im starken Wind. Orangefarbene Schlauchboote durchpflügen die Wellen, sie bringen Politiker und Journalisten von der „Rainbow C“ zurück ans Ufer. Bleich und mit unsicheren Bewegungen tun die Passagiere ihre ersten Schritte an Land.

Sie haben den Vormittag auf See verbracht, 1,7 Kilometer vor der Küste. An jener Stelle, wo die „Compagnie Générale des Matières Nucléaires“ (Cogema) in 27 Meter Tiefe vor der Küste ihren Atommüll in den Ärmelkanal einleitet. Jährlich 230 Millionen Liter. Die Stelle, unter der das 23 Zentimeter dicke Abflußrohr endet, ist nicht markiert. Weder mit Bojen auf See, noch auf irgendeiner Karte. Die örtlichen Fischer kommen hierher, um Hummer aus dem Meer zu holen. Die Cogema nutzt die starke Tiefenströmung, um ihren Müll schnell zu verdünnen und in alle Richtungen zu verteilen.

Wegen des hohen Wellengangs kann Greenpeace an diesem Freitag nicht wie geplant tauchen, um eine neue Meßsonde am Ausgang des Rohres zu befestigen. Drei Sonden hatten die Umweltschützer dort schon angebracht, alle drei wurden ihnen von der Cogema gestohlen. Statt zu tauchen, haben die Umweltschützer ihren Gästen Videos von der letzten Unterwasseraktion gezeigt und die jüngsten Untersuchungsergebnisse über die radioaktive Strahlung am Ausgang des Abflußrohres bekanntgegeben: Jedes Kilo des Sediments aus Sand und Muscheln ist belastet mit 146.100 Becquerel Cobalt-60 und 1.300 Becquerel Americanum-241. Es strahlt zehntausendmal stärker als der verseuchte Fisch aus den Stauseen bei Kiew nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und es erfüllt alle Kriterien, um als Atommüll zu gelten. Die Radioaktivität durch Beta-Strahlen ist am Rohrausgang 18millionenmal höher als in normalem Meerwasser.

Einer der drei Männer am Ufer ist skeptisch: „Man weiß ja nicht, wer recht hat“, wiegelt er ab. Er hat sich seine blaue Wollmütze tief in die Stirn gezogen und schiebt einen Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen. Er ist Fischer und bereits in Rente gegangen. Auch der Mann neben ihm mit der grünen Schirmmütze ist schon im Ruhestand – ein Bauarbeiter. Er deutet mit dem Kopf nach rechts, zum WAA-Standort. „Die sagen das eine“, brummt er, „und die das andere.“ Dabei streckt er das Kinn ganz leicht nach vorne zum Ufer. Der jüngste, der diese Woche als Schweißer bei der WAA anfängt, heftet den Blick auf den Asphaltboden und läßt den Satz fallen: „Ich finde gut, daß Greenpeace hier ist.“

Da kommt Bewegung in die drei Männer vor der Kühlerhaube. Der Fischer, der früher Hummer aus dem Meer geholt hat, nimmt den Zahnstocher aus dem Mund, steckt ihn tief ins linke Ohr. „Es geht ja nicht mehr um uns, sondern um unsere Enkelkinder“, erklärt er. Der Bauarbeiter hatte 1962 die dicken Betonwände für die WAA mit hochzogen, als niemand in der Region ahnte, was eine „Atomfabrik“ ist, und später auch die für das AKW auf der anderen Seite der Bucht. Er löst den rechten Arm aus der Verschränkung und beschreibt einen großen Halbkreis von der linken bis zur rechten Klippe. „Selbst bei der WAA gibt es immer weniger Arbeitsplätze“, schimpft er, und wenn, dann nur bei Bauunternehmen, die schlechter zahlen als die Cogema selbst. Der junge Schweißer, der zu so einem Unternehmen geht, schlägt jetzt seine leuchtend grünen Augen auf, verlagert das Gewicht auf das andere Bein und sagt: „Von unseren Politikern hier und aus der WAA erfährt man nichts.“

Über drei Jahrzehnte lang konnte die Cogema auf dem äußersten westlichen Landzipfel der Normandie, wo es außer der WAA, dem AKW und der Rüstungsschmiede von Cherbourg keine Industrie gibt, unbehelligt schalten und walten. Ihre ersten Landaufkäufer erzählten den Bauern noch, daß sie eine Kesselfabrik auf der Klippe bauen wollten, wo heute die WAA steht. Jahrzehnte später gaben sie sich nicht einmal mehr diese Mühe, als sie das AKW auf dem Gelände der Eisenmine errichteten, deren Schließung in den umliegenden Dörfern so viele arbeitslos gemacht hatte. Allmorgendlich transportierten Dutzende von Bussen die Arbeiter aus den Dörfern in die Cogema-Fabriken. Die Gewerkschaften in der WAA verteidigten die Wiederaufarbeitung vehement. Zusätzlich hielten die üppigen Spenden der Cogema für moderne Sporthallen und neue Straßen die Leute bei Laune.

Die Kontrolle der WAA obliegt den Kontrollierten selbst. Das „Institut für die Nukleare Sicherheit“ (ISPN), das demselben staatlichen Atomkommissariat (CEA) untersteht wie die Cogema, und das „Institut für Reaktorsicherheit“ (DSIN), ein Teil der notorisch pronuklearen Industrieministeriums, messen die Strahlung in der WAA und im Meer. Sie tun das einen Kilometer von der Mülleinleitung entfernt, wo das Abwasser bereits stark verdünnt ist. Und wenn doch einmal ein Umwelt- oder Gesundheitsminister Bedenken anmeldet, geht der Präsident des CEA eben direkt zum Elysee-Palast. Schließlich ist das Kommissariat nicht nur für die zivile, sondern auch für militärische Atomnutzung zuständig, und das ist Präsidentensache.

Angesichts derart geballter Macht mußte schon jemand mit dem Kaliber und der Infrastruktur von Greenpeace kommen, um der Cogema die Stirn zu bieten. Vor einem Monat reisten die Umweltschützer in dem Hafen von Dielette an. Ein buntes Häufchen von hartgesottenen Abenteurertypen. Dazu ein paar mit Handys ausgestattete blasse Büromenschen. Sie kommen aus aller Welt. An Bord sprechen sie Englisch. Französisch können die wenigsten. Ihre international koordinierte Aktion war beschlossen, lange bevor in Paris Neuwahlen stattfanden. Zehn Tage lang fahndeten sie mit Sonden nach dem Rohrende. Dann nahmen ihre Taucher Sedimentproben, befestigten eine Pumpe an dem Rohr und leiteten radioaktives Wasser an die Oberfläche.

Ian Hegeman steht breitbeinig in dem Container, der für die Gelegenheit an Bord der „Rainbow C“ installiert wurde. In seinem improvisierten Container-Labor hat der Wissenschaftler vom „Institute of Sea Research“ auf Texel die Beta- Strahlung in Wasser und Sediment gemessen. Die Gamma-Strahlung muß in der Universität Bremen untersucht werden. In Hegemans Container-Labor sind 300 Proben in numerierten Glasflaschen mit weißen Drehverschlüssen aufgereiht. Ihre Füllung schwappt bei dem Seegang hin und her. Nummer 252 enthält Urin von einem Greenpeace-Taucher. „Natürlich gibt es ein Verstrahlungsrisiko“, sagt Hegeman, „aber bislang ist nichts passiert. Unsere Taucher sind vorsichtig. Sie gehen nur bei Ebbe runter und kommen nach 20 Minuten wieder hoch.“ Offiziell darf die Cogema ihren Müll nur bei Beginn der Flut einleiten. Die Greenpeace-Taucher haben auch bei Ebbe schon beobachtet, daß Abwässer aus dem Rohr schossen.

Seit Anfang dieses Jahres ist Bewegung in die Diskussion um La Hague gekommen. Eine britische Wissenschaftszeitschrift veröffentlichte, daß das Leukämieriskio in der Umgebung um den Faktor drei erhöht ist. Ein unabhängiges französisches Strahlenmeßinstitut stellte gefährliche Radioaktivität rund um das Abflußrohr an einem Strand fest. Inzwischen hat der Präfekt dort ein Schild „Betreten verboten“ aufgestellt. Absperrungen gibt es nicht. Dann sendete das französische Fernsehen einen Film über die Krebshäufung am Cap La Hague und über die radioaktive Belastung von Muscheln und Fischen. Und seit drei Wochen sitzt in Paris eine grüne Umweltministerin, die über die Messungen von Greenpeace öffentlich erklärt hat, daß sie daran „nichts Unnormales“ finde und bald eigene Untersuchungen veranlassen würde.

Der Fischer Henri, der Schweißer Sebastien und der Bauarbeiter, der seinen Namen nicht verraten will, haben immer am Cap La Hague gelebt. Der Fischer zieht seine blaue Mütze vom Kopf und eine blütenweiße Haut wird sichtbar. „Das hatte ich früher nicht“, sagt er, „vielleicht kommt das auch davon.“ Der Bauarbeiter wagt den Vorwurf: „Die Umweltschützer hätten mal vor 30 Jahren kommen sollen, dann wäre uns eine Menge erspart geblieben.“ Der Schweißer hält wieder dagegen: „Endlich mißt jemand den Müll. Bravo Greenpeace.“

Die Organisation galt in Frankreich lange als Staatsfeind, gelegentlich auch als von Moskau gesteuert, und vor zwölf Jahren wurde sie Opfer eines von Paris organisierten Bombenanschlags. Nun hat Greenpeace 15 Liter hochradioaktiven Flüssigmüll aus dem Abflußrohr an Bord der „Rainbow C“ gelagert. Weil internationale Konventionen die Verklappung von Strahlenmüll im Meer verbieten, will sie den Müll jetzt an die Kunden der WAA zurückgeben. Neben der französischen Atomindustrie sind es an erster Stelle deutsche Energieerzeuger, die in La Hague ihre abgebrannten Brennstäbe wiederaufarbeiten lassen – aber auch Japan, Schweiz und die Niederlande.

Am Freitag geht ein Schreiben von Greenpeace an die Umweltminister aller beteiligten Länder, damit sie ihren Müll zurücknehmen. Am Samstag verläßt ihr Schiff das Cap La Hague in Richtung Nordsee, um den Müll an die Urheber zurückzustellen. Die „Rainbow C“ ist jetzt ein Atomtransporter.

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