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Kirchentag in der Parallelwelt

Im türkischen Musikleben Deutschlands läuft wenig ohne Aleviten. Seit drei Jahren organisieren sie in Köln ein olympiareifes Kulturfestival  ■ Von Martin Greve

Vor dem Gebäude der „Europäischen Föderation der Alevitenverbände“ stauen sich Autos und Kleinbusse. Ausgelassene brave Jugendliche aus München, Essen oder Berlin springen aus den Wagen, fallen sich in freudigem Wiedersehen um den Hals, drängeln ins Innere. Dazwischen eilen Funktionäre mit gütigen Gesichtern von einer Besprechung zur nächsten. Irgend jemand muß die Musiker von Flughafen abholen, der Sicherheitsdienst fürs Stadion wird eingeteilt, die Texte der Ansagen und Reden ausführlich erörtert. Die Atmosphäre erinnert an einen evangelischen Kirchentag.

Gerade eine Woche ist es her, daß die fundamentalistische Organisation Milli Görüs im Dortmunder Westfalenstadion knapp 40 000 Anhänger versammelte – nun, im Kölner Müngersdorfer Stadion sind die Aleviten an der Reihe. Zum dritten Mal findet das Alevitische Kulturfestival statt, gewidmet den Opfern des Brandanschlages von Sivas. 25.000–30.000 Besucher sind gekommen, angerollt in 250 Bussen aus ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz, London und Brüssel. Etwa 130 bis 150 Alevitengemeinden gehören der 1991 gegründeten Föderation an – „genau wissen wir auch nicht, wie viele es sind“, gesteht Vorstandsmitglied Sinan Erbektas.

Alevitische Veranstaltungen können aus einer schier unendlichen Fülle hochkarätiger Musiker aller Stile schöpfen. Bei den traditionellen Gemeindeversammlungen nämlich finden anstelle von Gebeten heilige Tänze statt, die von Saz-Spielern begleitet werden. Während für viele fromme Sunniten Musik verdächtig ist, lernen Aleviten daher schon als Kinder, sie als etwas Heiliges zu verehren. Überall im türkischen Musikleben finden sich – offen oder nicht – Aleviten: Vor allem in anatolischer Volksmusik, aber auch als Rapper, Popsänger, Hochzeitsmusiker oder Kassettenhändler. Im türkischen Musikleben Deutschlands läuft wenig ohne alevitische Musiker oder Musikhändler. Auch in Köln präsentieren rings um das Stadion zahllose türkische Kassetten- und Musikalienhändler ihre Stände. Daneben treibt das Merchandising wilde Blüten: traditionelle rote Stirntücher mit der Aufschrift „Ya Ali“, aber auch alevitische Kaffeetassen und Feuerzeuge.

Während der Tag mit einem olympiareifen Einzug der Jugend – mit Fähnchen, Trachten und rituellen Tänzen – beginnt, ist hinter den Kulissen eine Diskussion um die deutschsprachige Ansagerin Beyhan Yahsi aus Berlin entbrannt – eine Abweichlerin, klagt der Berliner Alevitenvorstand. Verstohlen seufzen die Föderationsfunktionäre: Die Berliner wieder! Mindestens sieben alevitische Vereine existieren mittlerweile in Berlin: eine schiitisch-iranisch orientierte, eine PKK-nahe und eine gemäßigt prokurdische, eine „Alevitische Gemeinde“, eine „Neue Alevitische Bewegung“ sowie neuerdings eine „Haci Bektas Gesellschaft“. Nur der größte Verein, das „Kulturzentrum anatolischer Aleviten“ ist Mitglied der Föderation, auch heute in Köln mit neun Reisebussen vertreten. Unter Berliner Aleviten allerdings ist der Verein wegen seiner antikemalistischen Haltung längst nicht mehr unumstritten. Bei allen Vereinsquerelen geht es freilich auch um Geld. „Alle religiösen Organisationen haben Kapital aus Spenden“, winkt der alevitische Berliner Abgeordnete Ismail Hakki Kosan (Bündnis 90/ Die Grünen) resigniert ab. „Wir brauchen noch ein paar Jahre, bis die Aleviten des Organisierens müde werden.“ „Die Refah-Partei mit Milli Görüs ist perfekt organisiert“, meint der türkischstämmige Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir, „ebenso die Nationalisten. Die Aleviten sind die letzten, die sich organisieren“.

Im Stadion beginnt nun ein siebenjähriger Knirps alevitische Lieder ins Mikrophon zu schmettern. Insgesamt 23 Sänger und Musikgruppen sind angekündigt. Zunächst lokale Größen aus Wien, Frankfurt oder Hamburg. „Wer gute Bekannte hat, braucht nicht auf Qualität zu achten“, erläutert ein Sänger das Auswahlverfahren. Später allerdings folgen auch bekannte Volkssänger aus der Türkei, etwa Zafer Gündogdu oder Canan Baskaya bis hin zu Stars und Superstars wie Edip Akbayram, Yavuz Bingöl, Zülfü Livaneli – gemeinsam mit Maria Farantouri – und Arif Sag. Schon bald erweist sich das Programm selbst bei kürzesten Auftritten und höchstem Improvisationsgeschick der Techniker – kaum eine Gruppe hatte eine Soundcheck für nötig gehalten – als zeitlich vollkommen aussichtslos.

„Letztes Jahr lief die Organisation besser“, stöhnt Sinan Erbektas. Drinnen tritt nun der Vater der beiden jüngsten Opfer von Sivas auf, Ismail Kaya. Immer führt die Erinnerung an Sivas die heterogenen Einzelgruppen zusammen. Ein Redner nach dem anderen betont das Bekenntnis zu Religionsfreiheit, Demokratie und Menschenrechten. Während sich die meisten Appelle an die Türkei richten, beginnen auch deutsche Parteien die Aleviten als potentielle Wähler zu entdecken. Da verliest SPD-Vorstandsmitglied Gerd Anders „solidarische Grüße des Vorsitzenden Oscar Lafontaine“, und etwas später ruft der Bündnisgrüne Cem Özdemir erst auf türkisch, dann auf deutsch zur Einbürgerung auf. Draußen sammelt SPD-Mann Sinan Samat Unterschriften zur Unterstützung seiner Bundestagskandidatur als Migrantenkandidat, und ein paar Meter weiter haben die Grünen ihren Stand aufgebaut.

Auf dem Stadionrasen beginnt derweil eine Bruderschaftszeremonie. Heilige Tänze in professioneller Regie weisen in die Zukunft des Alevismus als Massenreligion. So mancher Einwanderer der ersten Generation mag sich an frühere Zeiten erinnern, als alevitische Zeremonien geheimgehalten wurden. Inzwischen plant die Föderation in Köln die Errichtung eines Zentrums zur zentralen Ausbildung alevitischer Geistlicher.

Mit der Dämmerung setzt der Rückstrom ein. Die meisten Besucher werden noch am Abend nach Hause fahren. Gegen halb elf Uhr, als mit Superstar Arif Sag der Höhepunkt des Abends erreicht ist, erzwingen plötzlich Lärmschutzauflagen eine drastische Reduktion der Lautstärke, schließlich erlischt auch die Stadionbeleuchtung. Bei der abschließenden feierlichen Verleihung des „Freundschafts- und Friedenspreises“ an Livaneli und den Schriftsteller Yasar Kemal ist das Stadion bis auf die Bühne dunkel und menschenleer. „Ich bin selber Alevit“, erzählt Gökten Demir, „aber in einem Verein bin ich nicht. Ich weiß nicht, was diese Föderation für Politik macht, aber eins ist gut: daß die Aleviten gemeinsam hier sind.“

Eine endlose Schlange aus Autos und Bussen setzt sich müde in Bewegung. Vor dem Stadion schickt der Koordinator der Kölner Straßenbahn über Funk alle bereitgestellten Sonderwagen in die Depots zurück: „Es sind keine Fahrgäste da, ich wiederhole: keine Fahrgäste.“

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