■ Breloers „Todesspiel“ erzählt noch nicht einmal die halbe Wahrheit über den Deutschen Herbst 1977. Eine Erinnerung: Der Schraubstock
Zwei bis drei politische Generationen hockten vergangene Woche vor dem Fernseher, als Heinrich Breloers spannungsgeladenes „Todesspiel“ über den Deutschen Herbst gegeben wurde. Die Tage darauf folgten hitzigste Diskussionen. Die einen schwelgten in Lobeshymnen – endlich habe man verstanden, was damals passiert sei. Die anderen geißelten den Film als Thrillerschnulze, die dazu verführe, sich die Sicht des Hardliners Helmut Schmidt zu eigen zu machen. Wer diesen Film für bare Münze nehme, werde nie verstehen, was damals geschah.
Ich fand Breloers Werk als Spielfilm brillant gemacht: spannend bis zur letzten Sekunde, überzeugend auch in seiner Parteinahme für die gepeinigten Geiseln in der Landshut. Aber: Als Dokumentarfilm fehlt vieles, ohne das man die bis in die Gegenwart ragende Bedeutung des Deutschen Herbstes nicht verstehen kann.
Im Herbst 1977 war ich 22 und Mitglied eines bunten Sponti-Haufens an der FU Berlin. Zwei Leute aus dieser Gruppe tauchten kurz danach ins RAF-Umfeld ab, eine weitere Person aus unserem Umkreis erlebte später die zweifelhafte Ehre, zur Führungsfigur der „Dritten Generation“ der RAF gezählt zu werden. Die Ereignisse jener Zeit hatten alle drei zu der Annahme verleitet, der Faschismus stünde kurz vor einer neuen Machtübernahme.
Das hört sich nur für jene vollkommen absurd an, die den Deutschen Herbst bloß aus Büchern oder bloß aus Breloers Film kennen. Der Filmemacher verliert kein Wort über die damals herrschende Atmosphäre, miterzeugt von einer, wohlgemerkt, sozialliberalen Koalition. Diese war repressiver und bedrohlicher als die schwärzesten Momente der schwarzen Regierung Kohl, als alles, was diesem Herbst folgte. Was die Sozialdemokraten an Maßnahmen und Repressalien gegen das gesamte linksliberale Spektrum durchprügelten, würden die Christdemokraten von heute nicht wagen. Es begann Anfang der 70er Jahre mit den Berufsverboten, dann folgten, als Antwort auf die RAF-Attentate, eine bis heute beispiellose innere Aufrüstung samt zahlreicher Sondergesetze. Klaus Bölling, damals Regierungssprecher, enthüllte in einem späteren Interview das treibende Motiv der Sozialdemokraten: ihre ewige Angst, erneut als „vaterlandslose Gesellen“ oder gar als „Spießgesellen des Terrorismus“ zu gelten. Diese Furcht führte nicht nur zu einer „Dämonisierung der RAF“ (Bölling), sondern machte die SPD auch unendlich erpreßbar, was die rechten Kräfte in der Folge weidlich nutzten.
Die Assoziation „bleiern“ ist vielleicht gar nicht mal zutreffend für jene Zeit. Es suggeriert einen schweren Deckel von oben, der alles erdrückt. Wir aber fühlten uns eher wie in einem Schraubstock, eingezwängt zwischen RAF und Staat, ein Drittes gab es nicht mehr. „Mensch oder Schwein“, so versuchte die RAF die linke Szene moralisch zu erpressen. „Bürger oder Sympathisant“, antwortete der Staat spiegelbildlich. Wer öffentlich über die RAF sprach, ohne sich heftigst zu distanzieren, galt als Helfershelfer des Terrors und hatte mit Berufsverbot, Abhöraktionen oder Hausdurchsuchungen zu rechnen. Die Bundesregierung sorgte nicht nur für eine umfassende Nachrichtensperre, sondern auch für eine tiefgehende Gefühlszensur: Niemand sprach mehr über seine wahren Empfindungen, die ritualisierten Distanzierungsformeln erstickten jede ehrliche politische Debatte.
Es war eine massenpsychologische Konstellation, wie sie sonst nur in Kriegen und Bürgerkriegen oder in deren Vorfeld zu finden ist. Wie schnell diese Verkriegerisierung vonstatten ging, wie schnell die leitenden Repräsentanten der Bundesrepublik das politische Denken zugunsten des Militärischen zu verlernen drohten, zeigt der Film in einer höchst eindrucksvollen Szene. Auf Breloers Frage, ob die RAF eine Kriegserklärung abgegeben habe, antwortet Friedrich Zimmermann als Chef der CSU-Landesgruppe, damals Mitglied des Krisenstabs: „Ja, und wir haben sie angenommen. Wir hatten die Wahl der Kapitulation oder der Annahme. Der Leutnant Zimmermann, der Oberleutnant Schmidt und der Oberleutnant Strauß wußten, was Krieg war.“
Ich war damals, aus einem tansanischen Entwicklungsprojektchen kommend, in einem halb kaputten Flugzeug, mitten in den Deutschen Herbst hineingeflogen und konnte deshalb zumindest erahnen, wie den entführten Geiseln in der „Landshut“ zumute war. In unserer Sponti-Gruppe waren wir uns einig, daß Flugzeuge zu kapern ein wahnsinniger, nicht zu rechtfertigender Akt war. Aber wir formulierten es nicht öffentlich, aus Angst, als Staatshanseln zu gelten. Wir verstummten. Wir sahen uns jeder angemessenen Sprache beraubt.
Der Schraubstock wurde angezogen. Der Staat verwandelte sich binnen kürzester Zeit zum repressiven Verwalter einer imaginären Staatsräson, die alles erlaubte, selbst den Gesetzesbruch. Sofort nach der Schleyer-Entführung wurden die Stammheimer Häftlinge ohne Rechtsgrundlage unter Kontaktsperre gesetzt. Ihre Verteidiger durften sie nicht mehr aufsuchen. Als die Anwälte dagegen klagten, bekamen sie vor Gericht recht, doch auf Anordnung von Generalbundesanwalt Kurt Rebmann ließ man sie weiterhin nicht in den Stammheimer Knast: ein glatter Bruch der Verfassung. Als sie daraufhin eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ankündigten, wurde innerhalb einer Woche das Kontaktsperregesetz durch den Bundestag gepeitscht. Dabei wollten einige Anwälte – zum Beispiel der inzwischen verstorbene Hans Heinz Heldmann – die Gefangenen von der Idee des Austausches abbringen. Heldmann wußte, daß viele RAF-Mitglieder Flugzeugentführungen nicht guthießen. Warum ließ man den Anwälten keinen Hauch einer Chance? „Damals herrschte eine Art Lynchjustiz“, gab Bölling im nachhinein zu. „Jeder wäre ausgelacht worden“, so Bölling, der im Krisenstab einen solchen Vorschlag gemacht hätte.
Nichts von alledem in Breloers Film. Statt dessen ein Helmut Schmidt, der, so wird subtil suggeriert, ja nicht anders konnte.
Wir fühlten uns 1977, ob berechtigt oder unberechtigt, an die Wand gestellt. Die einen gingen in den Untergrund. Die anderen, zu denen ich gehörte, wollten lieber eine Tageszeitung gründen, um in kommenden finsteren Zeiten eine dissonante Stimme zu haben, die nicht in eine neuerliche freiwillige Unterwerfung unter die Nachrichtensperre einstimmt. In dieser Hinsicht erwies sich die taz zum Glück als überflüssig. Ute Scheub
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen