: Die Kinder von Montezuma
Costa Rica ist ein beliebtes Ziel für Aussteiger auf Zeit. Wenn sich die Neohippies in einem Dorf einnisten, passen sich die Einwohner den Fremden an. Nicht umgekehrt ■ Von Marc Bielefeld
Jeden Abend, meistens so gegen sechs, schneidet der alte Antonio Cortega Jim Morrison die Kehle durch. Auch Grateful Dead, Bob Marley, Jimi Hendrix und Janis Joplin hat er auf dem Gewissen. Señor Cortega hat Musik hassen gelernt. Dabei hat er früher selbst gesungen. Mit Carlos, Renaldo, Pedro und den Mariachis, die gelegentlich vorbeikamen. Sie fuhren in die kleine Bar Central oben in Cóbano und schmetterten Lieder von der independencia oder vom großen gelbflossigen Thunfisch. Señor Cortega waren jetzt schon lange keine cantos mehr über die Lippen gekommen.
Obwohl Cortega mit westlichen Kultmusikern nichts am Hut hat, muß er ihre Hits mit anhören. Jeden Abend nach Sonnenuntergang. Dann füllen sich in Montezuma, einem kleinen Dorf am südlichen Zipfel von Costa Ricas Nicoya-Halbinsel, die kleinen Bars und Cafés. Dann dröhnen die Gitarrengewitter und Bassläufe der berühmten Jimis und Johnnys bis hinauf in das kleine, dunkle Zimmer, das ihm seine Frau zugewiesen hat. Dort sitzt Señor Cortega auf seinem Holzstuhl, bis ihn Montezuma mal wieder ganz taub gemacht hat.
Costa Rica ist eines der beliebtesten Ziele des Ökotourismus. Seitdem sich rumgesprochen hat, daß es hier nicht nur Nebelwald, Ledernackenschildkröten und seltene Tukans gibt, sondern auch schöne Strände und mildes tropisches Klima, besuchen viele Langzeitreisende das Land. Einschlägige Reiseführer, wie der „Lonely Planet Travel Survival Kit“ von Rob Rachowiecki etwa, beschreiben Costa Rica als die ideale Spielwiese für Zivilisationsmüde. Einige von ihnen sind dabei so begeistert, daß sie gar nicht mehr abreisen wollen. Die Neohippies – junge Europäer, Kanadier und Amerikaner – suchen sich ihre eigenen Enklaven, um den kleinen Traum vom Aussteigen wahrzumachen. Montezuma ist so eine.
Die ersten Symptome einer schweren Krankheit merkt man meist nicht. Oder interpretiert sie zum Guten. So war es auch damals, als Carlos seine Bar unten am Strand an einen jungen Amerikaner verkaufte, der daraufhin ein großes Schild über die Theke hängte: „Pizzeria del sol“. „Für das Geld baue ich mir ein größeres, schöneres Restaurant“, hatte Carlos gesagt. Das tat er auch. Aber als er stolz sein Lokal oben am Hang eröffnet hatte, kam keiner. Die wenigen Touristen blieben unten am Wasser, da wo die Sonne das Meer abends in ein dunkles rotes Licht taucht, und kauften ihre Getränke bei dem Amerikaner. „Hör mal, Carlos“, sagten die einheimischen Fischer dann eines Tages zu ihm, „der Gringo zahlt uns ein paar Colones mehr, wir müssen unseren Fang an ihn verkaufen.“ Von dem Geld der Fischer und der Viehzüchter, die gelegentlich bei ihm zechten, konnte er nicht leben. Nach einem Jahr verkaufte Carlos auch sein neues Restaurant. Diesmal an eine deutsche Frau, die einen Drachen auf der Schulter trug.
Ausgerechnet Montezuma haben sich die Pilger als Wallfahrtsort ausgesucht. Ausgerechnet das kleine Fischerdorf im Niemandsland Nicoya, unten am Cabo Blanco, wo die Männer schon seitdem sie denken können zum Fischen rausfahren. Deutsche Reiseführer zur Lage: „Montezuma ist der Treffpunkt der Neohippies. Angesagt ist das einfache Leben: Meer, Sonne, Reggae und Müsli.“
Ein anderer Guide beschreibt Montezuma als „Geheimtip der Aussteigerszene“, wo „die hier hängengebliebenen Ausländer täglich neue Globetrotter begrüßen, die „den Hauch der einstigen Hippie-Zeit spüren wollen“.
Wie uniformierte Kleinstmissionare kamen sie daher. Doch seitdem sie im Dorf sind, ist für einige Einwohner das Leben alles andere als rosig geworden. Die Abwässer der Bars und Hotels werden seit Jahren ins Meer geleitet. Die Reiseführer schreiben inzwischen, man solle nicht mehr am Dorfstrand baden. In den Straßen liegt Dreck. Die Einwohner veranstalten jede Woche Wettbewerbe im Saubermachen – „Beach- Clean-ups“ für jedermann. Wer die meisten Dosen und Kippen im Sack hat, gewinnt. Der alte Cortega kann die Latschenträger einfach nicht durchschauen. Sie arbeiten nicht, gehen nirgends fischen, trinken, rauchen, hören laute Musik – und tragen dennoch mehr Dólares in der Tasche, als er jemals gesehen hat.
Dabei war er der erste aus Montezuma, der skeptisch wurde. Cortega beobachtete, wie ein junges Mädchen, dessen Sprache er nicht kannte, dem kleinen Peruaner an der Ecke ganze fünf Dollar hinschob und dafür ein kleines buntes Bändchen bekam, das sie um ihr Fußgelenk knöpfte. Immer mehr Reisende kamen in sein Dorf, große Rucksäcke auf dem Rücken, Gummisandalen an den Füßen, und blieben gleich mehrere Monate. Und dann kam die Musik. Eines Tages schleppten die Gringos riesige Boxen an und stellten sie direkt vor ihrer Bar in den Sand. Da kam mächtig Trara raus, und seitdem die neuen Wahl-Montezumeños ihre Hymnen spielten, wurde auf einmal mehr Imperial verkauft als je zuvor. Schon bald hatte der Amerikaner sein Schild ganz vorne ans Haus genagelt: „Pizzeria del sol & Hotel Montezuma“.
Das Dorf wandelte sich schnell. Mit der Fähre von Puntarenas kamen zunehmend mehr Touristen, der kleine Peruaner hatte seine Stände bald im ganzen Ort aufgestellt, und die Deutsche, die Carlos' zweites Restaurant gekauft hatte, zeigte dort neuerdings Videofilme auf einem großen Fernseher. Heute verkaufen ihre Freundinnen dazu selbstgebackene Kekse, große Veggie-Burger, Bananen- und Ananas-Shakes. Unten am Strand haben sie Zelte aufgeschlagen, vor denen sie, manche haben sogar ihre Kinder dabei, Marihuana rauchen und den ganzen Tag reglos in der Sonne liegen.
Irgendwann war es dann soweit. Cortegas Frau rückte kein Geld mehr raus. Nicht mal ein paar müde Colones, damit er sich neue Farbe für das Boot hätte kaufen können. „Wenn du deine Bonitos und Doraden nicht an die Gringos verkaufen willst, dann sieh doch zu, wie du deine Farbe bezahlst“, fauchte sie. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß sich Cortega beschissen fühlte. Carlos hatte keine Bar mehr, in die er hätte gehen können, im Dorf wimmelte es von Fremden, und der Peruaner hatte sich inzwischen sogar die Hütte gekauft, in der Cortega früher seine Netze aufhängte und stopfte. Und nun sollte er noch nicht einmal mehr raus aufs Meer fahren dürfen. Die heilige Schutzpatronin mußte ihn verlassen haben.
Seitdem in den achtziger Jahren der Ökotourismus populär wurde, ist Costa Rica zum beliebtesten Ziel Mittelamerikas geworden. In den meisten Landesteilen verkaufen die Ticos Wildwasserfahrten, organisieren Dschungeltouren, Vulkanbesteigungen oder bieten nächtliche Ausflüge zu den Schildkröten an. Das Geschäft mit der Natur boomt, und die Minister können zufrieden ihre Devisen zählen.
Bis zu über 60 Millionen Dollar kommen pro Jahr ins Land. Nicht, daß Señor Cortega auf den Kopf gefallen ist, aber das Geschäft mit den Touristen ist definitiv an ihm vorbeigegangen.
Die Invasion der weitgereisten Expatriaten hat in Montezuma einen Boom ausgelöst. Einfache Unterkünfte schießen wie Pilze aus dem Boden, aus kleinen Soda-Bars wurden Selbstbedienungsrestaurants, und in der Eisdiele, in der auch Hamburger und Bier verkauft werden, kann man heute Fahrräder und Pferde mieten.
„Antonio“, meinte Cortegas Frau vor nicht allzu langer Zeit, „von deinen Fischen können wir nicht mehr leben. Ich werde das Haus umbauen. Wir werden die Zimmer vermieten, damit wir wieder Geld haben.“ Der alte Señor Cortega hatte das Krankheitsbild längst erkannt. Und damit, daß es auch seine Frau und ihn erwischen würde, hatte er gerechnet. Heute ist Montezuma nicht mehr Montezuma, und die Menschen sind nicht mehr dieselben. Carlos arbeitet als Kellner in Chico's Bar, Pedro ist weggezogen, und die Mariachis spielen eh nur noch in Santa Cruz oder Filadelfia. In Montezuma würde man sie nicht hören und ihnen höchstens Almosen geben. Aber Mariachis nehmen keine Almosen.
Wie jeden Tag geht in Montezuma, dem ehemaligen Fischerdorf, gegen sechs die Sonne unter. Señor Cortega sitzt allein bei Kerzenlicht am Tisch und ißt Reis mit Bohnen und Thunfisch aus der Dose. Seine Sachen hat er sorgfältig neben sich abgestellt. Heute nacht wohnt er in Zimmer 4, da ist die Glühbirne kaputt. Man könne es heute nicht mehr vermieten, sagt seine Frau. Erst morgen wieder. Sie hat in den letzten Monaten, seit auf der Tür zu seinem alten Salon nun cabina uno steht, mehr Geld verdient als er in vielen Jahren. Sie versteht ihr Geschäft. Die cabinas hält sie in Schuß, verhandelt gute Preise, und neulich hat sie sogar das Poster von Jim Morrison im Flur rahmen lassen. „Antonio“, ruft sie draußen von der kleinen Rezeption herüber, „wenn du dich schon nicht nützlich machst, beschrifte wenigstens die neuen Schlüssel!“ Antonio Cortega gibt wie immer keine Antwort. Nie wird er Schlüssel beschriften, Betten machen, kochen oder den Weg vor der Tür fegen. Antonio Cortega ist Fischer. Nur eben einer ohne Boot.
Als Señor Cortega an diesem Abend auf seine steifen Finger schaut, die schon lange keinen Tampen mehr gehalten haben, weiß er, daß dies das Endstadium ist. Seine Heimat, Montezuma, ist nicht mehr seine Heimat. Von unten am Strand kommen – es ist längst Gewohnheit – wieder die lauten Gesänge in einer fremden Sprache. Unten aus Chico's Bar. Oder aus dem El Sano Banano. Oder dem Soda La Gemelas.
In den Gassen von Montezuma donnern jetzt wieder die Doors, vibrieren die Bässe, ächzen die Gitarren. Die Hymnen der Hippies. Wie Gewittergrollen hängt der Lärm der Musik über dem Dorf, preßt sich den Hang hinauf bis zum Hotel. Durch die kleine Pforte, hinein in Zimmer 4. Dort sitzt Señor Antonio Cortega, Fischer, und verübt ganz alltägliche Morde.
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