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Es gibt kein Zurück

■ Eine ost westliche Geschichte zum 3. Oktober

Ich wollte nicht dazugehören. Niemals. Ich wollte immer weg. Mein Leben drehte sich darum, gegen Regeln zu verstoßen. Verweigerung war meine einzige „sozialistische Errungenschaft“, zu der ich es gebracht hatte. Als die Mauer noch stand, aber auch die ersten Jahre danach, berichtete ich vom Leben in der DDR flapsig. Manchmal auch wütend, wie eine Zukurzgehaltene. Aber eine, die es geschafft hat. Ich erzählte darüber, wie ich die DDR empfunden habe: als einen persönlichen Feind, der versuchte, mich in seinem dichten Netz gefangenzuhalten.

Heute erzähle ich die DDR anders. Milder? Weiß ich nicht. Gerechter? Vielleicht. Richtiger? Hoffentlich. Jedenfalls fällt es mir schwer zuzugeben, daß ich meine Wut nur noch erinnern kann. Aber ich fühle sie nicht mehr. Früher hatte ich die DDR nur als eine Episode gesehen, die am 9. November 1989 beendet wurde. Eine, die mich nicht mehr beschweren sollte.

Ich habe mich geirrt.

Vor dem Mauerfall war alles klar. Mein Klassenstandpunkt war so unsozialistisch wie möglich: Alles im Osten war scheiße. Ich erinnere mich noch gut an 1983: Gerade hatte ich an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Spanisch zu studieren begonnen, da entdeckte ich, daß in dem spanischen Wort für Scheiße („Mierda“) die drei Buchstaben für DDR, R.D.A. („República Democrática Alemana“) steckten. Was für ein Fund: Meine Überzeugung schwarz auf weiß in der zweitmeist gesprochenen Sprache der Welt verborgen. Wenn das nichts bedeuten sollte, ja was dann? Statt zu versuchen, aus den Politseminaren wenigstens einige Brocken Allgemeinbildung herauszufiltern, schaltete ich auf Durchzug und versuchte, wo immer es ging, Verbote zu brechen und Vorschriften zu umgehen.

1984 wurden wir von unserer Seminargruppenleiterin darüber informiert, daß in Ostberlin das Institut Français eröffnet wurde. Statt die Studenten in das einzige Kulturhaus eines westeuropäischen Landes zu schicken, um ihre Sehnsucht nach Paris zu lindern, wurden wir belehrt, daß uns der Besuch verboten ist.

Um dieser Anordnung den nötigen Nachdruck zu verleihen, wurde uns vorsorglich angedroht, daß man am Eingang mit Namen und Personalausweisnummer registriert werde. Ein Versuch, anonym das Institut zu besuchen, sei zwecklos.

Ich studierte zwar kein Französisch und hatte auch nicht vor, dies zu tun. Doch allein das Verbot weckte Interesse an dieser Sprache. Auf meine Frage, warum uns das Kulturzentrum Unter den Linden vorenthalten wird, erhielt ich zur Antwort: „Weil das kapitalistischer Grund und Boden ist.“ Die anderen Studenten schluckten diese Begründung ohne Murren.

Wenige Tage später fuhr ich in die Hauptstadt, die ich sonst gern mied. Ich wollte die Mauer nicht jeden Tag sehen. Ich war etwas nervös. Nachdem ich mir an den großen Glasscheiben des Instituts die Nase platt gedrückt und vergeblich nach DDR-Uniformierten am Eingang Ausschau gehalten hatte, wagte ich mich auf das verbotene Terrain. Überraschenderweise wurde niemand daran gehindert, das Haus in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor zu betreten. Keine Ausweiskontrolle. Keine Registrierung.

Zaghaft setzte ich einen Fuß vor den anderen: Der kapitalistische Boden unter mir tat sich nicht auf. Es legte sich auch keine mahnende Hand auf meine Schulter, als ich in einer der französischen Tageszeitungen zu blättern begann.

Leider konnte ich nur mit Eingeweihten über diese verbotene Reise sprechen. Trotzdem fühlte ich mich nach diesem Ausflug in eine verbotene Welt irgendwie überlegen. Was machte da schon, daß ich nur flüchtig die Buchtitel in der Bibliothek überflogen hatte? Ich wußte etwas, was die anderen nicht wußten – und auch nicht wissen wollten.

Solche und andere Geschichten von sozialistischen Alltagspirouetten erzählte ich vor und auch noch einige Zeit nach dem Mauerfall mit großem Vergnügen. Jetzt, acht Jahre danach, fällt mir auf, daß es nicht mehr die gleichen Wildostgeschichten sind, die am Gesprächsanfang mit einem Westler stehen.

Statt von dem Frust, nicht nach Sevilla zum Sprachkurs fahren zu dürfen, ist mir wichtig zu erwähnen, daß es in der DDR sehr wohl möglich war, Spanisch zu lernen. Früher fand ich es nur ungerecht, daß ein Weststudent jederzeit in die Karibik fliegen konnte. Der Vermerk in seinem Reisepaß „Für alle Länder der Welt“ gab ihm alle Zeit der Welt, auch ohne Wörterbuch in der Hängematte zu liegen.

Meine Aussicht dagegen, ohne Parteibuch, Ehemann oder andere „Rückkehrgarantien“ wohl niemals in ein spanischsprechendes Land

reisen zu können, war zwar alles andere als rosig. Aber schon zu der Zeit war es gerade diese Aussichtslosigkeit, die mich anspornte. Ich bekam keine Chance. So nahm ich sie mir.

Was, ihr laßt mich nicht fahren? Na schön. Dann suche ich mir meine eigene Reiseroute. Und die führte Abend für Abend in die Mensa, wo Studenten aus Kolumbien, Nicaragua, Venezuela und Ecuador saßen. Später waren es die verbotenen Jobs an kapitalistischen Ständen auf der Leipziger Messe. Wie bitte, ich soll als Spanischstudent tschechische und polnische Touristen betreuen? Ihre höchstpersönliche Suche nach Schnäppchen durch das während der Messewochen verbesserte Konsumwarenangebot sollten sie machen. Aber ohne mich. Deshalb habe ich mir meine Jobs am Messeamt vorbei selbst besorgt.

Ein wunderbares Gefühl, an der Eingangskontrolle ganz selbstverständlich nach dem Stand von Spanien zu fragen und dann ohne Frage nach dem Messeausweis eingelassen zu werden. Statt die Arbeitserlaubnis zu überprüfen, wurde eilfertig der Weg gewiesen. Zu Westlern sollte man nett sein. Zumindest während der devisenträchtigen Messe. An den Ständen von Kolumbien, Uruguay und Paraguay rettete mich die fremde Sprache davor, von den Stasikontrollettis enttarnt zu werden und meine heimlich verdienten Westmark in die Staatskasse einzahlen zu müssen.

Heute habe ich keine Lust mehr, einem Westler zu erklären, wie man im Osten leben konnte. Wie etwas sein konnte, was nicht sein durfte. Es geht mir auf die Nerven, zu erzählen, daß man auch ohne zehn verschiedene Sorten Balsamico-Essig gut essen konnte. Auskünfte auf Fragen, die keine wirkliche Antwort wollen. Keine Lust. Lieber ertrage ich diesen Blick, der zu fragen scheint, ob ich etwa zu denen gehöre, für die „früher alles besser war“.

Die DDR war nicht besser. Sie war anders. Und sie war praktisch. In der DDR war es für mich leichter, meine Haltung zu finden. Ich brauchte nur die Vorgaben im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden ins Gegenteil zu verkehren – schon wußte ich, wo ich stand. Ich war eingepaßt ins sozialistische Räderwerk, ob ich wollte oder nicht. Glücklicherweise arbeitete es aber nicht wie ein Schweizer Uhrwerk. Ob Mangel an Öl zum Fetten, fehlende Ersatzteile oder unzuverlässiges Bedienpersonal – Verbindungen und Auswege gab es viele.

Auch der Westen war praktisch. Er war aber anders anders. Vor allem nicht so wie die DDR. Also viel besser. Als ich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1989 mit einem Taxi nach Westberlin fuhr – die Züge waren überfüllt – hatte ich nur einen Koffer dabei. Ob Plattenspieler, Büchsenöffner oder Papierlocher – alles blieb zurück. Mit dem Alltagskram dachte ich, auch meinen Alltag zurückzulassen. Ein neues Leben sollte anfangen. In dem war kein Platz für blasse Emailtöpfe und ausgewaschene Kopfkissenbezüge. Monate später habe ich nur einige alte Bauernschränke und Bücher nachgeholt. Meine Vater hatte sie mir geschenkt. Ich mußte ihm versprechen, sie nicht zu verkaufen.

Mein heimlich verdientes Westgeld ging im Handumdrehen für „Waren des täglichen Bedarfs“ drauf. Es tat mir in der Seele weh, das schöne Westgeld für profane Dinge ausgeben zu müssen. Am Ende mußte ich mir eingestehen, daß sich der West- vom Ostquirl nur in Preis und Design unterscheidet.

Meine ältere Schwester war bedachter. Sie ist 1991 eher widerwillig nach Bayern gegangen. Ihr Mann hatte seine Arbeit verloren, schließlich auch sie selbst. Den gesamten Hausstand nahm sie mit, obwohl sie sich damals nicht vorstellen konnte, in Bayern seßhaft zu werden. Wie hatte ich mich über sie lustig gemacht, als sie auch die Handtücher einpackte, die sie zur Jugendweihe geschenkt bekommen hatte. Noch heute trocknet sie ihre Hände damit ab. Die ersehnten flauschigen Modelle wird sie erst kaufen, wenn auch die letzte Ostfrotteefaser nicht mehr trocknet.

Im Osten war es leicht, für einen Westler gehalten zu werden. Das tat gut. Was man vom Westen schon damals gut lernen konnte, war, mit Dreistigkeit zum Ziel zu kommen. Zum Beispiel im Sommerurlaub am Balaton in Ungarn. Billigurlaubsland für Westler, Luxusferiengebiet für Ostler, die maximal 400 DDR- Mark in Forint umtauschen durften. Um der entscheidenden Frage „Ost oder West?“ zu entgehen, brauchte man nur bestimmt auf einen Tisch zuzusteuern, den Kellner zu ignorieren und umgehend an der bekleckerten Tischdecke rumzumäkeln. Prompt wurde man umschwänzelt: Das kann nur ein Wessi sein!

Das gleiche dachten die Verkäuferinnen in den Intershops, wenn man sich als Ostler, der eigentlich nur mit wertlosen Forumschecks einkaufen durfte, mit lauter Stimme nach „Hakle Feucht“ erkundigte. Ein leichtes Naserümpfen über das unvollständige Sortiment war die Grundlage für eine zuvorkommende Bedienung. Als wählerischem Scheinwestler wurde einem alle Zeit der Welt eingeräumt, um in Ruhe auszurechnen, wie man die wertvollen zehn Mark am besten ausgibt. Ohne den Paß zu verlangen, akzeptierten die Verkäuferinnen das Westgeld aus meinen Osthänden.

Auch im Westen ist es leicht, wie einer „von ihnen“ zu wirken. Man muß nur den sächsischen Klang aus der Sprache tilgen, handgeflochtene Lederschuhe tragen und wissen, daß es sich bei Stracciatella um keine Geigenbauerfamilie handelt. Ich hab' das nie als Kompliment empfunden. Eher hat mich gewundert, nach welch oberflächlichen Kriterien entschieden wird, wer in die Ostschublade gehört.

Will mich jemand gegen „meine Brüder und Schwestern“ vereinnahmen, bin ich automatisch Partei. So wie auf der ersten Internationalen Automobilausstellung nach dem Mauerfall in Berlin. Ich arbeitete bei Audi als Hosteß. Daß ich einmal versehentlich von „Orangenjuice“ statt „O-Saft“ gesprochen hatte, hatte sich Gott sei Dank nicht herumgesprochen. So kamen die Verkäufer in ihren Pausen an die Bar, an der ich arbeitete, um über die lästigen Ossis herzuziehen, die ungeniert die Schonbezüge und Lenker der Autos begrabbelten. Sie glaubten sich unter sich. Sie tranken auf ihre Treffsicherheit im Erkennen von Ossis statt auf die vielen potentiellen Kunden: „Hast du vorhin den mit dem Perlonbeutel gesehen?“

Und da war es wieder, dieses Gefühl, das ich aus der DDR kannte: „Ich weiß was, was ihr nicht wißt.“ Ich ließ die Alleswisser in ihren schicken Anzügen eine Woche lang in ihrem Irrglauben. Erst am letzten Tag der Messe zog ich meinen Trumpf aus dem Ärmel. Ganz beiläufig sagte ich ihnen, daß sie ihre Ossiphobie vor einem Ossi ausgelebt hatten. Wie ein Audi 80 im Schnellstart räumten die Herren die Bar, als wäre ihnen der Teufel begegnet.

Manchmal aber fehlte auch mir die Kraft, mich über den Dingen zu wissen. Als mich im Dezember 1989 ein Sachse am Kurfürstendamm nach einem Seifengeschäft fragte, fertigte ich ihn ab, als wäre ich eine von diesen blöden Westkühen, die keinen Fremden auf ihrer saftigen Wiese grasen lassen wollen.

Danach tat es mir furchtbar leid. Ich war doch nur genervt vom Weihnachtstrubel. Hatte sich mein Vater früher jedes Jahr über handgeschöpftes Briefpapier gefreut, solches, das nur unter der Hand zu kriegen war, wußte ich plötzlich nicht mehr, was ich ihm kaufen sollte. Mein Landsmann konnte nichts dafür, daß ich auch nicht wußte, wo man an der Gedächtniskirche Seife kaufen kann. Der Mann war zu schnell im Gewimmel verschwunden, als daß ich mich hätte entschuldigen können. Ich schäme mich noch heute.

Als ich im Sommer 1991 bei der taz als Assistentin in der Berliner Lokalredaktion anfing, hielten mich viele für einen Westler. Und das nur, weil ich mich gleich am ersten Tag über die verkeimten Schreibtische aufgeregt und in wenigen Tagen Ordnung in den Laden gebracht hatte. „Linke Schweine“, dachte ich damals belustigt.

Ich fühlte mich wohl bei dem Blatt, obwohl es mich an die DDR erinnerte. Alles gehört allen. Das kam mir bekannt vor. Mit Genugtuung stellte ich fest, daß dieses Prinzip auch bei der taz nicht funktionierte. Ständig verschwanden Aufnahmegeräte, Überspielkabel oder Laptops. Das ist auch heute noch so.

Größere Probleme hatte ich bei den Dingen, die so ganz anders als in der DDR waren. Toll, daß jeder zu allem seine Meinung sagen darf. Doch die Endlosdiskussionen, wo man am Ende einer Versammlung nicht mehr weiß, ob es um die nächste Abokampagne oder um Frauenrechte geht, fand ich fast genauso unerträglich wie das Redeverbot in der DDR. Dort wollte ich nie einem Kollektiv angehören. Bei der taz war ich es auf einmal. Ich wurde sogar Genosse. In der taz-Genossenschaft. Apropos: Wenn meine Kollegen die weibliche Sprachform benutzen, holt mich der Osten wieder ein – ich mag sie einfach nicht.

Mittlerweile habe ich das Gefühl, daß es die erste Zeit nach der Wende viel einfacher war. Spielerischer. Ein Leben als Abenteuer. Das Neue ist nun nicht mehr neu. Aufregend ist es nur noch begrenzt. Ein Freund nannte das neulich Erwachsenwerden.

Vielleicht. Jedenfalls macht es mir jetzt nichts mehr aus, Mitte der achtziger Jahre eine CD als Wandschmuck an die Wand gehängt zu haben. Es war schwer, den Nagel durch das Silberding zu schlagen. Soll sich doch der Wessi schämen, der sie mir geschickt hat.

Heute spüle ich sogar – wie meine Mutter – fettige Plastikgefrierbeutel, um sie wiederverwenden zu können. Eine Angewohnheit, die ich früher gehaßt habe. Ich fand das armselig. Es gab keinen Tag, an dem die Heizkörper in unserer Küche nicht mit den Dingern vollgehängt waren. Häßliche Wassertropfen zogen sich täglich auf dem braunen Plastikboden von der Spüle bis zum Fenster.

Meine Mutter hängt keine Plastiktüten mehr zum Trocknen auf. Sie sind keine Mangelware mehr. CDs nagele ich auch keine mehr an die Wand. Ich habe dazugelernt. Und ich lerne jeden Tag mehr. Ich bin ja ein Ostler.

Vor 33 Jahren im Kreiskrankenhaus in Borna geboren. Eine Kleinstadt in der Leipziger Tieflandbucht. Gut dreißig Kilometer südlich von Leipzig. Im vorigen Jahrhundert baute man dort Zwiebeln an, in jüngerer Vergangenheit Kohle ab. Die Luft war dreckig. Die Menschen hatten sich daran gewöhnt. In unmittelbarer Nähe zu den Industrieschornsteinen von Böhlen und Espenhain bauten sie Salat und Tomaten an.

Den Ruß wuschen sie einfach ab. An der Luft trockneten „Esda“-Strumpfhosen. Wenn der Dreck die teuren Strümpfe zerfraß, bekamen die Frauen neue erstattet.

Jetzt ist die Luft besser. Strumpfhosen sind schon für 1,99 Mark zu haben. Die meisten volkseigenen Betriebe wurden geschlossen. Von der Luft allein können die über 20 Prozent Arbeitslosen nicht leben. Mancher Tagebau wurde geflutet und mit Büschen und Birken renaturiert. Es geht nur langsam voran. Das Geld fehlt.

Die einzige Erinnerung, die ich aus meinen ersten drei Lebensjahren habe, ist ein verschwommenes Bild von einem Freilichtkino mit steinernen Sitzreihen in der Nähe unseres damaligen Wohnblocks. Dieses Kino habe ich das letzte Mal in einer Folge der „Lindenstraße“ gesehen.

Es war von der TV-Serien-Mannschaft als der passende Ort ausgesucht worden, um die DDR atmosphärisch gelungen zu zeigen. Dort brüllte die mittlerweile aus dem Drehbuch gestrichene sächsische Blumenverkäuferin ihrem Bruder ihr Wissen über seine fiesen Stasimachenschaften entgegen. Als ich kürzlich vor dem Kino stand – die verrostete Tür war abgeschlossen –, wirkte die Anlage längst nicht so riesig und gespenstisch wie in der „Lindenstraße“. Fast idyllisch überwuchert meterhohes Unkraut die Sitzreihen. Ein vergilbter Anschlag wirbt für „Das kleine Arschloch“.

Ich kann nichts Schlechtes über Borna erzählen. Auch nichts Gutes. In meinem Impfausweis steht, daß mir im Kreiskrankenhaus ein riesiger Furunkel herausoperiert wurde, als ich ein Jahr alt war. Ich habe keine Erinnerung an meine ersten drei Lebensjahre in Borna. Ein Ort, an den ich nie zurückkehren wollte. Jetzt, dreißig Jahre später, bin ich zurückgekehrt. Mein Vater hatte die Idee, dorthin zu fahren. Erst wollte ich nicht. Um keinen Preis. „Dann können wir auch nach Hannover fahren“, sagte ich. Aber warum eigentlich nicht?

Auf der Hinfahrt fallen mir die Trabis und Wartburgs ein, die im November 1989 mit „Wir kommen zurück“-Schildern die Autobahnen bevölkerten.

Der wirklich schön restaurierte Marktplatz meiner Geburtsstadt hat sich so verändert, daß ich ihn auch mit besserem Erinnerungsvermögen nicht wiedererkennen würde. Nur die beklemmende Stille verrät mir, wo ich bin. Da kann auch die schönste Stuckfassade nicht drüber hinwegtäuschen. Einzig die Ruhe ruft Erinnerungen wach. Die Geräusche der eigenen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster klingen, als hätte ich einen Verfolger an den Fersen.

Es gibt jetzt mehr Restaurants und Cafés. In ihnen sitzen keine Menschen. Ich glaube nicht, daß die halbe Stadt gerade auf Mallorca Urlaub macht. Kellner stehen auf der Straße und halten nach Kundschaft Ausschau. Ein Café mit Plastikpalmen und Holzpapageien geht mit Männerstriptease auf Gästefang.

Meine Heimat. Ich würde gerne etwas empfinden. Aber ich spüre nichts. Früher wollte ich nichts finden, mit dem ich mich hätte identifizieren können. Ich habe mich zurückgelassen und kann nichts finden.

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