: Der Lehrer wird zum Viereck
„Comenius-Projekt“: Die Telekom schickt fünf Schulen in den Cyberspace, die Schüler proben Chancen und Risiken von Multimedia. Ein Modell mit Ladehemmung ■ Von Thomas Loy
So was heißt auf gut Amtsdeutsch wohl Asservatenkammer: vor dem Fenster ein Kleiderständer im unverwüstlichen Schuldesign, daneben ein monumentaler Kasten: „Lade- und Schaltgerät für Sicherheitsbeleuchtung nach VDE 0108“ mit schwankenden Zeigern, ein ausrangierter Bibliotheksapparat neben der Tür, dahinter eingeklemmt Dutzende von Landkarten, im Regal verstreut Ordner, Kataloge, Disketten und ein großer Plüschlöwe. Im Eck vegetiert ein palmenartiges Gewächs in einer Plastikwanne. Und dann stehen da Theodor Fontane, Franz Kafka, Thomas Mann und Gottfried Keller im typischen Einheitsgrau. Ein gelber Zettel warnt: „Fontane streikt, will die Bootdiskette.“
Fontane und seine Schriftstellerkollegen sind Computer und verwandeln den trostlosen Ort per Knopfdruck in ein virtuelles Klassenzimmer. Die PCs stehen im Charlottenburger Schiller-Gymnasium und gehören zum Comenius-Projekt der Telekom. Fünf Berliner Schulen proben seit 1994 die pädagogischen Chancen und Risiken des Multimediazeitalters. An jeder Schule stehen zwölf leistungsstarke Computer, die per Glasfaser-Infobahn miteinander vernetzt sind. Lehrer und Schüler können sich über Videokonferenzen oder E-Mail miteinander unterhalten, Fragen stellen, Kritik anbringen, in Datenbanken nach Infos suchen oder Lehrfilme abfahren. Was Comenius Internet und Online-Diensten voraus hat, sind die großen Datenmengen, die übertragen werden können, und die eigens für das Projekt entwickelte 3D-Software.
Comenius-Surfer sind selbst Teil einer digitalisierten Welt, treffen sich auf dem virtuellen Campus, im Projekthaus oder in der Landesbildstelle auf der Suche nach neuen Videos. Nach dem Einloggen wird aus jedem Lehrer ein Viereck, aus jedem Schüler ein Dreieck. Treffen sie sich unterwegs, wird ein kurzer „Chat“ abgehalten oder man ignoriert sich, genau wie im richtigen Leben. „Alles fließe von selbst. Zwang sei ferne den Dingen“, sagte einst der große Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670), laut Telekom- Werbung einer der ersten multimedialen Vordenker.
Die 10. Klasse von Inge Schulze- Rekzeh hat heute Projektunterricht – Themen: Luft und Wasser. Mit konkreten Arbeitsanweisungen geht es an die Rechner: Datenbankrecherche nach Stichwörtern, im Klimaprojekt der Bettina-von- Arnim-Schule nachschauen und sich Fragen für einen E-Mail-Kontakt überlegen. Im Medienkatalog der Landesbildstelle werden Unterrichtsfilme angeboten: „Alternativen zu FCKW“ – „Kenn' ich, hab' ich schon dreimal gesehen“, langweilt sich eine Schülerin.
Mit ihren 48 Jahren könnte sich Schulze-Rekzeh, die Lehrerin für Englisch und Erdkunde, problemlos in die große Ohne-mich-Fraktion im Kollegium einreihen. Statt dessen agitiert sie ganz vorn an der Multimedia-Front, spricht schon den branchenüblichen Anglo- Slang, erkennt die Möglichkeiten, aber auch die Untiefen der neuen Technik und hat keine Hemmungen, sich von Cyberspace-Süchtigen ein paar gute Tips zum unfallfreien Surfen geben zu lassen. „Die Lehrerrolle ändert sich. Man muß sich von der Idee der absoluten Lehrerkompetenz verabschieden“, sagt sie. Bisher machen nur vier Lehrer beim Projekt mit. Die anderen schauen mehr oder weniger skeptisch zu. „Wir werden immer noch als Exoten betrachtet.“
Technisch gesehen erwies sich das Pilotprojekt als überaus steiniger Acker. Angesichts der traumhaften Hardware-Ausstattung – Multimedia-PC, Scanner, Drucker, Digitalkamera, Schnittplatz, Glasfaserverbindung – schossen die Erwartungen zunächst heftig ins Kraut. Doch bei der Umsetzung der großen Pläne blieben die Bildschirme dunkel. Das Programm mußte mehrfach überarbeitet werden. Die PR-Maschine der Telekom war schon im vollen Gange, da glich das virtuelle Klassenzimmer noch einer Baustelle. Lutz Lienke, Leiter der an Comenius beteiligten Jugendkunstschule im Atrium, berichtet, schon im ersten Projektjahr habe der Sponsor der Schule einen professionellen Videoschnittplatz versprochen, der jedoch nie eintraf. Der ebenfalls versprochene Internetanschluß soll im Herbst nachgeliefert werden. Die Verzögerungen bescherten Lehrer und Schülern eine lange Frustrationsphase. Kontakte brachen wieder ab, Projekttage mußten immer wieder verschoben werden. Dennoch betrachtet die BerKom das Projekt als erfolgreich und verhandelt bereits darüber, was nach dem Projekt kommen soll. „Das Wichtigste ist: Wer qualifiziert die Lehrer?“
Inge Schulze-Rekzeh durchlief einen „Informationstechnischen Grundkurs“. Ansonsten gestaltete sich ihr Aneignungsprozeß nach der Trial-and-error-Methode. Eines war von vornherein klar: Multimedia eignet sich besonders für Projektarbeit. Anfangs gingen die Comenius-Lehrer euphorisch heran, legten ihre vier Klassen zusammen, um sie in Projektgruppen neu aufzuteilen und drei Tage lang mit ihnen zu arbeiten – außerhalb des eingefahrenen Stundenschemas. „Das war eine absolute Überforderung für Lehrer und Schüler“, sagt die engagierte Lehrerin heute. Als Konsequenz wurden die zwölf Computer auf vier Räume aufgeteilt und die Klassenstrukturen beibehalten. Auch die Kommnunikation mit den anderen Schulen gestaltet sich schwieriger als erwartet. Die angekündigten Projekte stießen auf dem virtuellen Campus nur selten auf Resonanz. Offen ist auch die Frage der Benotung. Eine Projektarbeit wird nicht als Klausur anerkannt.
Trotz aller Schwierigkeiten und Anfängerfehler zieht Schulze- Rekzeh eine positive Zwischenbilanz. „Was wir alles gelernt haben – toll“, sagt sie und lacht. „Es lohnt weiterzumachen.“ Auch Lutz Lienke, mit 51 Jahren ebenfalls erklärter Hilfsschüler in Computerfragen, sieht letztlich keine Alternative zu Multimedia. „Die Schule muß schnell reagieren.“ Die Schüler sehen die neue Technik dagegen überraschend nüchtern. Selbst die Computer-Kids bleiben auf dem Teppich – für die ist Comenius ohne Internet ohnehin wie ein Auto mit eingebauter Geschwindigkeitsbegrenzung. Im Kunstunterricht machte Lienke die Erfahrung, daß viele Schüler nicht mit der Maus auf dem Bildschirm herumhüpfen, sondern mit den Händen selbst Ton oder Farbe spüren wollten. Jasmin aus der 10. Klasse ist von den vielen Software-Blackouts entnervt, nur das Chatten sei ganz lustig, sagt sie. Sie schwört auf das Publisher-Programm, mit dem sie die Schülerzeitung zusammenbaut – doch dafür ist Comenius überflüssig. Judith gibt sich fundamental medienkritisch. „Briefe schreiben geht auch so“, erklärt sie mit Verve und liest lieber Zeitung, als in die Computerglotze zu gucken.
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