: Wer waren Ferdinands Frauen?
Im Ahlbecker Heimatmuseum erfährt man auch, was nicht geschrieben steht. Vorausgesetzt, man macht sich Notizen und läßt sich von der Aufsicht belehren. Der kinderreichste Mann der Welt zeugte Kanonenfutter, aber gewiß nicht ohne Frauen ■ Von Henning Sietz
In einem Heimatkundemuseum denkt kaum jemand nach, geschweige denn, daß sich einer Notizen macht. Einheimische besuchen mit ihrer angereisten Verwandtschaft das Museum aus Langeweile, irgendwas muß man vor dem Sonntagnachmittagskaffee ja unternehmen. Die anderen Besucher sind Urlauber: Für sie sind die Bauernschränke, Herdstellen, Pötte und Kannen kurios, die üblichen Folterinstrumente wirken erheiternd, über das gestrenge Richtschwert macht man gerne Witze.
Heimatstube Ahlbeck auf Usedom: Ich stelle meinen Rucksack in die Ecke und ziehe ein Notizbuch aus der Jackentasche hervor. Klappe es auf, blicke in die Runde: Zwei kleine Räume hat das Museum, in einer Stunde ist man durch, wenn man gründlich ist.
Und schon surft der Kugelschreiber übers Blatt: Seebrücke in Ahlbeck, einziger erhaltener Seesteg an der deutschen Ostseeküste, bekam 1935 ein festes Dach. Die ersten drei Badegäste trafen 1852 in Ahlbeck ein: die zwei Töchter des Gutsbesitzers Stolpe samt Gouvernante.
Die blonde Dame von der Heimatstube folgt dem akribischen Interesse an der Historie mit ungläubigem Staunen. Sie stellt sich an den Türpfosten, verschränkt die Arme und folgt dem Gang des Kugelschreibers.
Im Jahr 1771 mußte der Müller in Ahlbeck seine Mühle verkaufen, weil der Rückstau des Mühlenwehrs die rückwärtigen Wiesen ständig unter Wasser setzte. König Friedrich II. ließ sie abreißen, die Bauern in Thurbruch gaben endlich Ruhe. Eine Skizze zeigt Königlich-Ahlbeck und Adelig-Ahlbeck, die 1882 vereinigt wurden.
An der anderen Wand des kleinen Zimmers geht es weiter. Die blonde Dame wechselt den Türpfosten. Die Arme bleiben fest verschränkt. Ihr Blick ist unverwandt auf das Notizbuch gerichtet. Hoffentlich kann sie alles lesen.
Der Schneidermeister Ferdinand Egelinski hatte 32 Kinder und war der kinderreichste Vater der Welt. Fast hätte ich das Wort ausgeschrieben: „zweiunddreißig“. Eine bemerkenswerte Leistung.
„Was schreiben Sie denn da?“ will die Dame wissen.
Lange hat es in ihr rumort. Jetzt ist es endlich raus. Ich schaue sie an: ein sympathisches Gesicht, nur die Frage ist nicht sympathisch. Ist ja schließlich mein Notizbuch.
„Ich recherchiere für einen Reiseführer. In dem Buch soll es auch ein Kapitel über Ahlbeck geben.“ Warum soll sie's nicht wissen?
„Ist ja interessant. Und da kommen Sie also her und schreiben das alles einfach so ab.“ Die Dame sieht mich angriffslustig an.
„Ich wähle einiges aus. Was mir interessant erscheint, notiere ich.“
„Sie schreiben einfach ab, was andere sich mühsam erarbeitet haben?“
„Es ist ja schließlich ein Museum, also für die Öffentlichkeit bestimmt.“
Sie zieht ein Gesicht und sagt nichts mehr. Doch in ihr arbeitet es. Der Türpfosten gibt ihr Widerstand, sie lehnt dagegen und bleibt dabei: Man hat in einem Museum nichts aufzuschreiben. Könnte ja jeder kommen.
Das alte Foto in der Ecke zeigt Egelinski mit vollem Haar, Schnurrbart, Vatermörder unterm Kinn, im Festtagsstaat. Ob seine Nachkommen wohl in Ahlbeck leben? Man müßte mal im Telefonbuch nachsehen.
„Und jetzt schreiben Sie das auch noch mit dem Egelinski ab!“ grollt die Dame. „Wenn ich das schon sehe! Die Kinder waren doch bloß Kanonenfutter. Über die Frauen hätte man schreiben sollen, die die in die Welt gesetzt haben. Aber darüber denkt ja keiner nach.“
Das hat was für sich.
„Die Kinder hat er natürlich mit verschiedenen Frauen gehabt. Aber die wurden nicht geehrt“, weiß die blonde Dame. „Aber der Egelinski, der wurde zum Kaiser gerufen.“
Tatsächlich, im Text ist von den Frauen nichts zu lesen.
„Sogar eine Straße in Ahlbeck ist nach dem benannt worden. Die zum Sportplatz hat nie einen Namen gehabt – bis dann jemand auf die Idee kam. Dort steht nun, daß es dreiunddreißig Kinder waren! Ich muß jedesmal lachen, wenn ich den Blödsinn sehe.“
„Ferdinand-Egelinski-Straße“, notiere ich.
„Wenn der mal hier und da naschen gegangen wäre, dafür hätte ich ja noch Verständnis gehabt. Aber so einer wird dann auch noch vom Kaiser geehrt.“
Ich wechsele die Wandseite, gehe zum Pappmodell der Seebrücke rüber. Sieht aus wie eine Schülerarbeit.
„Soll demnächst erneuert werden“, sagt die Dame schuldbewußt. Irgend etwas steckt in meinem Hinterkopf. Königlich-Ahlbeck, Adelig-Ahlbeck – was hat es damit auf sich?
„Wo war denn die Grenze? Sieht man die heute noch im Straßenverlauf?“
Auf diese Frage ist die blonde Dame nicht gefaßt. Wir gehen zum Ortsplan in die Ecke rüber.
„Sehen Sie hier, längs der Wilhelmstraße, der Schulzenstraße und der Strandstraße verlief die Ahlbeek. Und hier, beim Bäcker Blunck, stand früher die alte Wassermühle, genau an der Ahlbeek. Nördlich des Bachs lag Adelig-Ahlbeck, südlich davon Königlich-Ahlbeck. Kennen Sie den Bäcker Blunck?“
Und ob ich den kenne. Da hatte ich gestern abend eine Autopanne und konnte mir die Gegend eine Stunde lang ansehen. Ein freundlicher Mann, mittelalterlich, mit Geheimratsecken, wienerte nach Ladenschluß die Glastheke in der Bäckerei. Als ich im Dunkeln zur Tankstelle kam, war schon bekannt, wo ich liegengeblieben war. Der Dorftratsch wabert auch hier durch geheimnisvolle Kanäle.
Daß der Bäcker DDR-Jahrzehnte an der Ecke Stellung gehalten und in seinem winzigen Laden Brötchen verkauft hatte, erfuhr ich, während das Auto wieder fit gemacht wurde. Nach der Wende konnte er endlich anbauen.
Ich klappe mein Notizbuch zu. Die Dame schaut genau zu, wie das Ding in meiner Jackentasche verschwindet.
„Und jetzt schreiben Sie das alles in Ihren Reiseführer“, stellt sie abschließend fest.
„Einiges, ja.“
Ich schultere den Rucksack und gehe in den dunklen Abend hinaus. Die Dame schließt hinter mir die Tür ab, ich war der einzige Besucher an diesem Tag.
Es zieht mich zur Seebrücke. Da kommt man beim Bäcker Blunck vorbei. Der hat schon lange zugemacht. Der Laden ist von innen beleuchtet. Die blitzblanke Glastheke strahlt in warmem Licht. Der Mann mit den Geheimratsecken sitzt nebenan im Puppenstuben- Café und sieht mit seiner Frau fern. Es könnte eine Idylle sein.
Am nächsten Morgen ein Blick ins örtliche Telefonbuch. Es gibt keinen einzigen Egelinski, weder in Ahlbeck noch auf der ganzen Insel Usedom. Wo sind die alle hin? Also doch Kanonenfutter?
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